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Modell das Masernvirus mit dem F-Protein

© CDC/PHIL

Gefährliche Spätfolge einer Kinderkrankheit: Wie Masernviren Gehirnzellen infizieren

In seltenen Fällen folgt auf eine Infektion mit dem Masernvirus Jahre später eine bisher nicht behandelbare Gehirnentzündung. Den Mechanismus dahinter haben Forscher ergründet.

Von Stefan Parsch, dpa

Es ist eine gefürchtete Spätfolge einer Maserninfektion: Eine meist tödlich verlaufende Schädigung des Gehirns kann auftreten, wenn es den Erregern gelingt ins Gehirn vorzudringen. Unter welchen Umständen ihnen das gelingt, haben japanische Wissenschaftler herausgefunden. Demnach schaffen es Masernviren mit verschiedenen Genvarianten gemeinsam, Nervenzellen im Gehirn zu infizieren.

Der Wildtyp des Virus ist dazu nicht in der Lage, ebenso wenig wie einzelne Virustypen mit bestimmten Mutationen. Aber im Zusammenspiel können sie sich im Hirn ausbreiten und die meist tödliche verlaufende Hirnkrankheit „subakute sklerosierende Panenzephalitis“ (SSPE) auslösen, wie die Gruppe um Yuta Shirogane von der Kyushu University in Fukuoka in der Fachzeitschrift „Science Advances“ berichtet.

SSPE ist in den USA und Westeuropa wegen der weit verbreiteten Masernimpfung äußerst selten. Allerdings kommt es bisweilen zu Infektionen von Säuglingen, die noch nicht geimpft werden konnten – etwa, wenn sich in einer Arztpraxis zeitgleich oder Stunden zuvor ein nicht geimpfter, an Masern erkrankter Mensch aufhielt. Das Risiko, eine SSPE zu entwickeln, ist bei Menschen, die im Alter von unter zwei Jahren an Masern erkrankten, am höchsten. Die neurodegenerative Erkrankung tritt meist erst mehrere Jahre nach der akuten Maserninfektion auf.

Von der Kinderkrankheit zur lebensgefährlichen Folgeerkrankung

„Normalerweise infiziert das Masernvirus nur Immun- und Epithelzellen und verursacht Fieber und Hautausschlag“, erklärte Shirogane. Um in Nervenzellen eindringen zu können, müsse das Virus mutieren. Zentral sind dabei Mutationen, die die Form des F-Proteins des Virus verändern, das bewirkt, dass die Virushülle und die äußere Membran einer Körperzelle miteinander verschmelzen können oder „fusionieren“, daher der Name „F-Protein“.

Die Studienautoren analysierten Genmutationen in den Masernviren von SSPE-Patienten. Sie fanden verschiedene Mutationen, deren Effekte sie bei Versuchen an Gehirnen von Mäuseembryos testeten. Dabei stellten sie fest, dass eine bestimmte Mutation des F-Proteins für sich genommen dem Virus nicht das Eindringen in Hirnzellen ermöglicht. „Das war überraschend zu sehen“, sagt Shirogane. Denn wie kann eine Mutation zu einer Infektion des Gehirns führen, wenn sie das Haupthindernis, das Eindringen in Nervenzellen, nicht ermöglicht?

Doch die Forscher fanden eine Erklärung: eine sogenannte En-bloc-Übertragung. Das veränderte F-Protein kann nicht nur eine Fusion von Virenhülle und Zellmembran herbeiführen, sondern auch das Verschmelzen einer infizierten Zelle mit einer nicht infizierten Zelle. Bei den Nervenzellen geschieht dies an den Synapsen zwischen dem Axon, einem lange ausgezogenen Fortsatz, einer Nervenzelle und einer anderen, zu der das Axon führt. Bei dieser Fusion wird der synaptische Spalt überbrückt und die Viren gelangen ungehindert von der infizierten in die nächste Nervenzelle. Dabei liegen oft verschiedene genetische Varianten des Virus gemeinsam in einer Zelle vor und werden zusammen – en bloc – weitergegeben.

Virusvarianten beeinflussen gegenseitig ihre Infektionsfähigkeit

Shirogane und Kollegen stellten nun fest, dass die scheinbar sinnlose F-Protein-Mutation doch das Eindringen des Virus in Nervenzellen ermöglicht, wenn gleichzeitig der Wildtyp des F-Proteins anwesend ist. Bei den meisten anderen Mutationen des F-Proteins hingegen bewirkte der Wildtyp, dass das Eindringen in Nervenzellen kaum oder gar nicht gelang.

Die verschiedenen Mutationen können sich also gegenseitig beim Infektionserfolg stören oder ihn erst ermöglichen. Dieses erst vor wenigen Jahren entdeckte Phänomen wird im Englischen „Sociovirology“ genannt. Die verschiedenen Virusvarianten beeinflussen sich dabei gegenseitig Mitglieder einer sozialen Gruppe.

Mögliche Fallzunahme aufgrund der Covid-19-Pandemie

Die Forscher geben die Inzidenz von SSPE mit vier bis elf pro 100.000 Masernerkrankungen an. Wegen der weltweiten Masernimpfungen sei die absolute Zahl der SSPE-Fälle in den vergangenen Jahrzehnten stark zurückgegangen. Allerdings sorgen sich Fachleute, dass die Zahl wieder steigen könnte.

Lebendimpfstoffe gegen Masern werden in Deutschland seit den 1970er Jahren empfohlen.

© dpa/Owen Humphreys

Die Covid-19-Pandemie habe Impfprogramme insbesondere im globalen Süden zurückgeworfen, sagte Shirogane. Häufig seien Gelder, die für Impfungen gegen Masern vorgesehen waren, für Impfungen gegen das Coronavirus Sars-Cov-2 verwendet worden. Shirogane hofft, dass die gewonnenen Erkenntnisse zu medizinischen Maßnahmen zur Bekämpfung von SSPE führen werden.

Bisher lässt sich die Krankheit nicht aufhalten. Auf erste Anzeichen wie Vergesslichkeit und Reizbarkeit folgen Symptome wie Halluzinationen und Krampfanfälle. Geistiger Verfall, Sprechstörungen, Muskelsteifigkeit und Schluckstörungen folgen. Der Tod tritt meist ein bis drei Jahre nach Ausbruch ein.

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