zum Hauptinhalt
Über die Grenze. Die meisten Einwanderer werden aus Polen erwartet. Foto: dpa

© dpa

Wirtschaft: Richtung Westen

Seit heute können Arbeitnehmer aus acht osteuropäischen EU-Staaten ohne bürokratischen Aufwand in Deutschland arbeiten. Warum das kaum Folgen für den Berliner Arbeitsmarkt haben wird

Von seinem Schreibtisch aus schaut André Schmidt auf Polen. Rund 300 Meter entfernt beginnt das Nachbarland. Von hier aus hat der Sprecher der Arbeitsagentur Frankfurt (Oder) beobachtet, was sich dort alles tut. Auf den heutigen Tag ist er gut vorbereitet, er hat mit Menschen beiderseits der Oder gesprochen, Erklärungen geschrieben, Zahlen verglichen, Dokumente gewälzt. Er hat genug Informationen gesammelt, um gelassen sagen zu können: „Die Welt wird keine andere werden an diesem Tag.“

Dieser Tag, das ist der heutige 1. Mai. Menschen aus acht Staaten, die 2004 der EU beigetreten sind, dürfen von nun an ohne Beschränkungen in Deutschland arbeiten. Das heißt für Arbeitnehmer aus Polen, Tschechien, Slowakei, Slowenien, Ungarn, Litauen, Lettland und Estland, dass sie fortan keine Arbeitsgenehmigung mehr brauchen, um hierzulande ihr Geld zu verdienen. Wie viele diese Möglichkeit aber tatsächlich nutzen werden, kann niemand mit Sicherheit sagen. Die Schätzungen reichen von 100 000 Einwanderern pro Jahr, wie das Nürnberger Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung prognostiziert, bis 800 000 in den nächsten zwei Jahren. Letztere Zahl stammt vom arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft in Köln.

Für die Region rechnet die Arbeitsagentur Berlin-Brandenburg bis 2015 in Brandenburg mit etwa 9000 und in Berlin mit rund 28 000, überwiegend polnischen Arbeitnehmern aus Osteuropa.

Zum Massenansturm wird es demnach nicht kommen. Und so wird die Freizügigkeit voraussichtlich auch keine großen Folgen haben für die hiesigen Arbeitskräfte – nicht für Fachleute und auch weniger als befürchtet für Arbeitnehmer, die im Niedriglohnbereich tätig sind. Denn vor allem geringer Qualifizierte werden in Deutschland erwartet.

Entsprechend wird gemutmaßt, dass weniger qualifizierte Arbeitskräfte aus Osteuropa die Preise drücken – und für weniger Geld als es in Deutschland üblich ist, arbeiten könnten.

Um das zu vermeiden, hat Deutschland seinen Arbeitsmarkt so lange wie möglich für ost- und mitteleuropäische Arbeitskräfte dicht gemacht. Nur noch Österreich hat die EU-Übergangsfrist zur Einführung der Freizügigkeit wie Deutschland auf das Maximum von sieben Jahren ausgedehnt. Alle anderen EU-Staaten haben ihre Pforten bereits früher geöffnet, allen voran Großbritannien, Schweden und Irland. So entschieden auswanderungswillige Polen, Tschechen oder Esten schon vor Jahren ihre Koffer zu packen und in Großbritannien, Irland oder Skandinavien zu arbeiten.

Das hat die Hoffnungen deutscher Arbeitgeber, dass Einwandernde den zunehmenden Fachkräftemangel ausgleichen könnten, gedämpft. „Hochqualifizierte Arbeitskräfte aus Osteuropa sind schon damals abgewandert. Deutschland ist für sie weniger attraktiv, als wir glauben“, sagt André Schmidt. Er geht deshalb davon aus, dass gut ausgebildete Arbeitskräfte in Deutschland sich keine Sorgen darüber machen müssen, verdrängt zu werden. Schon jetzt sei abzusehen, dass es durch die alternde Gesellschaft in Zukunft in vielen Branchen weniger Arbeitsuchende als offene Stellen geben werde.

Um Bereiche, in denen auch Geringqualifizierte tätig sind, vor Lohndumping zu schützen, hat Deutschland noch vor dem ersten Mai das Arbeitnehmerentsendegesetz auf weitere Branchen ausgeweitet. In diesen Branchen müssen sich ausländische Firmen, die ihre Arbeitnehmer nach Deutschland schicken, an die geltenden Mindest- und Tariflöhne halten. Das ist etwa bei Gebäudereinigern, im Baugewerbe und ab heute in der Zeitarbeit so.

Dass das Interesse osteuropäischer Arbeitnehmer an Deutschland offenbar nicht so hoch ist, wie angenommen, ist für viele Arbeitgeber eine schlechte Nachricht. „Gastronomen in der Region erwarten viel von der Öffnung“, sagt Schmidt. In der Tat ist besonders die Gastronomie aufgeschlossen gegenüber Arbeitnehmern aus Osteuropa. In einer Umfrage der Berliner Industrie- und Handelskammer (IHK) unter 317 Unternehmen gaben knapp 60 Prozent der Gastgewerbe-Firmen an, dass sie Interesse daran haben, Mitarbeiter aus den neuen EU-Ländern einzustellen. „Wir sind grundsätzlich für alles offen. Wichtig ist uns, dass unsere Mitarbeiter Lust an der Arbeit haben“, sagt Jacqueline Gramm. Die Chefin des Gutshofs Glien in Bad Belzig sucht händeringend nach Service- und Küchenkräften für ihr Restaurant.

Die Arbeitsagenturen und Berufskammern im deutsch-polnischen Grenzgebiet helfen dabei, Arbeitnehmer und -geber auf beiden Seiten zusammenzubringen. In der Arbeitsagentur Frankfurt (Oder) melden sich pro Woche etwa fünf bis zehn Arbeitnehmer, die Interesse an einem Job in Deutschland haben, sagt André Schmidt. Hauptsächlich handele es sich dabei um geringer Qualifizierte, um Arbeitnehmer aus dem Dienstleistungsbereich, dem Bauwesen und der Gastronomie sowie Handwerker.

„Allerdings sind die Anfragen oft auf Polnisch oder Englisch geschrieben“, sagt Schmidt. Die Sprachbarriere habe sich auch bei Jobmessen in der Grenzregion als größtes Hindernis erwiesen. In Polen und den anderen EU–Ländern wird als erste Fremdsprache in den Schulen mittlerweile Englisch gelehrt – ein weiterer Grund, warum Arbeitnehmer eher in englischsprachige Länder auswandern.

Die Region Berlin-Brandenburg ist für Arbeitnehmer aus Polen trotz Grenznähe nicht besonders attraktiv. Diejenigen, die ihre Heimat verlassen, um in Deutschland zu arbeiten, gehen bevorzugt nach Baden-Württemberg, Bayern oder Hessen, weil sie dort mehr verdienen und bessere Jobchancen haben. Nur für Pendler, die in Polen oder Tschechien wohnen und in Brandenburg oder Sachsen arbeiten, könnte der Wegfall der bürokratischen Hemmnisse (siehe Kasten) ein Argument sein, westlich der Grenze nach Arbeit zu suchen.

Vermehrt kommen Anfragen von polnischen Bürgern, die an einer Ausbildung in Deutschland interessiert sind. Bei der Berliner Handwerkskammer etwa haben sich polnische Eltern über Ausbildungschancen für ihre Kinder informiert.

„Irgendwann“, prophezeit André Schmidt, „wird es hier so sein, wie an der deutsch-französischen Grenze.“ Das Arbeiten im Nachbarland werde zur Normalität – auch für Deutsche, die dann zum Arbeiten nach Polen gehen.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false