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Kultur: Zwischen Austerlitz und Borodino

Tief und ergreifend: Hans Otto Theater inszeniert „Krieg und Frieden“ in der Französischen Kirche

Tief und ergreifend: Hans Otto Theater inszeniert „Krieg und Frieden“ in der Französischen Kirche Von Gerold Paul Wer Krieg predigt, ist des Teufels Feldprediger, so ein Sprichwort. Aber nach Heraklit ist er auch aller Dinge Vater. So zog die Literatur ihre besten Werke aus ihm, Homer, Grimmelhausen, Schiller. Lew Tolstoi verfasste mit „Krieg und Frieden“ ein epochales Epos über die gewaltsamen Umwälzungen, welche Napoleon an Europa vollzog. Bei ihm findet der Krieg auf den Schlachtfeldern von Austerlitz (1805) und Borodino (1812), aber auch in den Köpfen der über 250 Romanfiguren statt. Auf der Grundlage einer 1955/56 vom „Piscator-Kollektiv“ geschaffenen Bühnenfassung zeigte das Hans Otto Theater am Samstag im Rund der Französischen Kirche eine Bearbeitung dieser Vorlage, so tief, so ergreifend, so unmittelbar, dass die 150 Besucher über drei Stunden atemlos blieben. Mit dem baumlangen Gisbert Jäkel hatte man nicht nur einen glanzvollen Regisseur gewonnen, sondern auch einen kongenialen Bühnenbildner der Spitzenklasse. Er teilte die reformatorisch-schmucklose Kirche in zwei ungleiche Hälften: Auf der einen Seite das amphitheatralisch geordnete Publikum, auf der anderen nebst Empore ein Ensemble, das unter einer so glücklichen Hand seine manchmal gefesselten Qualitäten freilegen durfte. Wenige Versatzstücke in einem einheitlich bleibenden Raum, sichtbare Anwesenheit nicht unmittelbar agierender Darsteller, dazu eine erstklassige Schauspielerführung bis in die „letzte“ Nebenrolle hinein, was sollte man sagen? Dieser von Orgel, Klavier und sanfter Geige (Musik Uwe Hilprecht) geradezu sphärisch berührte Abend war eines Geistes – sowohl innerhalb des Ensembles als auch vom Publikum her. Großes Chapeau! Krieg und Frieden, Reform oder Erhalt der überalterten Strukturen, all das verdichtete sich streitend im Inneren des fürstlichen Protagonisten Andrej Bolkonski, dem unsteten Sucher nach festen Lebensaufgaben. Wie ausnahmslos alle Figuren, schien auch Philipp Mauritz ständig unter einer spürbaren Spannung zu stehen, als er dem Korsen eingangs entgegenzog, dann verscholl, seine besorgte Frau (Jennipher Antoni, sehr intensiv) im Kindbett verlor, um bei einem Reformprojekt in der 17-jährigen Natascha eine neue Liebe zu finden, welche aber in einjähriger Bewährung nicht zu ihm hielt. Deren unbekümmerten Teil spielte Adina Vetter ohne Mühe, allerdings glaubte man ihr den inneren Wandel zum Ernsten am Schluss nicht unbedingt. Rita Feldmeier als Erzählerin gab die verbalen Überleitungen in guter, zurückhaltender Stringenz. Sie befragte auch gelegentlich die Figuren, eine hervorragende Idee. Mit Pierre (Christian Klischat) steht Andrej eine Hundertprozent glaubhafte Figur gegenüber, ein Zivilist und Beobachter allen Geschehens in verbindender Freundschaft; in seinem reformfeindlichen Vater unnahbare preußische Strenge, die seine Liebe verbirgt: Atemlos verfolgte man das kunstvolle Spiel von Andreas Herrmann. Ihm dient in töchterlichem Gehorsam Sabine Scholze als Marja. Sie freut sich und weint in einem, als ihr der alte Grimmbart stirbt. Das rührte an. Das Bauernvolk (Joachim Schönitz) indes lacht, es will nur gegen Napoleon ziehen, wenn es freiheitlichen Nutzen daraus zieht. Eine dramatisch-konträre Szene. Überhaupt gibt es wunderbare (vorzüglich pausierte) Bilder, mit geringstem Aufwand inszeniert: Ein erstklassiges Duell, Kriegsszenen ohne Krieg, Auftritte des dünnblütigen Zaren (Moritz Führmann), des bäuerlichen Generals Kutusow ( Schönitz), Freimaurer Günter Rüger, und, in seiner Rhetorik kaum glaubhaft, Feldprediger Napoleon (Johannes Suhm) daselbst, ein Nuschler beim Finale: Er habe es ja mit dem Vereinigten Europa „nur gut gemeint“ Krieg oder Frieden? Andrej stirbt, ohne zu finden, was seine Unstetigkeit suchte, sein Vater ist tot, Natascha bleibt verlassen. Die in unwirklich-weißes Licht getauchte Szene ist von bleichen Knochen besät. Was sagte Schiller in seiner „Piccolomini“? Im Kriege selber ist das Letzte nicht der Krieg. Immer geht es um geistige Auseinandersetzungen, alte und neue Moral, Siegen und Verlieren-lernen. Aktueller kann eine historisch gewandete Inszenierung nicht sein. Geist und Handwerk machen eben gutes Theater, und manche Besprechung will sich dann nur dankbar erweisen. Nächste Vorstellungen: 4. und 11. November.

Gerold Paul

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