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Kultur: „Hinter den Wolken ist noch Licht“

Der Schriftsteller Lutz Rathenow las nach fünfzehn Jahren erstmals wieder in der Potsdamer „Arche“

Der Schriftsteller Lutz Rathenow las nach fünfzehn Jahren erstmals wieder in der Potsdamer „Arche“ Von Gerold Paul Vor fünfzehn Jahren war Lutz Rathenow schon einmal in Potsdam. Im Keller der Hebbelstraße 9, wo sich eben die „Arche" etablierte, las er vor Freunden und Feinden „konspirative" Texte. Am Dienstag gab es im Pater-Bruns-Haus Am Bassin ein Wiedersehen mit dem „sanften Rebellen“ von einst. Die Friedrich-Naumann-Stiftung unterstützte diese Autorenlesung, vielleicht, weil der vielbeschäftigte Publizist, Satiriker, Kolumnist, Lyriker, Märchenerzähler und Prosaist auch Redakteur der Zeitschrift „liberal“ ist, und bei Gummersbach eine Schreibwerkstatt für die Blaugelben leitet. Es mag noch andere Gründe geben, warum die Stiftung ihr Banner so ostentativ in der unabhängigen „Arche“ aufrichtete, zu Epiphanias, am Tag der Erscheinung des Herrn. Miterfinder und Gegner Lutz Rathenow ist ein Thüringer aus Jena, Jahrgang 52, Ex-Dissident, „Prenzlauer-Berg-Miterfinder“ und „Prenzlauer-Berg-Gegner“, wie es im Booklet des schönen Hörbuches „Das RR Projekt“ („HörZeichen", 2002) heißt, darin Heinz Ratz Gedichte des Autors mit eigenem Impetus vertonte. Unter dem Titel „Auch 2003 ist schon vorbei“ gab der Abendgast einen Querschnitt seiner Schreibproduktion, teils journalistisch, teils mit poetischem Ansatz, wie die drei neuen Liebesgeschichten. Von Tod und Zeit ist darin die Rede, wie sich ein Ehepaar beim Telefon-Sex wiedererkennt, oder die Mär einer kurzen Begegnung („Fast eine Love-Story"), als eine junge Frau von einem Auto gestreift, den Übeltäter ganz sympathisch findet, aber sein Herzinfarkt jede weitere Begegnung beendet. Lakonische Kürze Literarische Skizzen von lakonischer Kürze, nähme sich Rathenow nur etwas mehr Zeit, so könnten gute Erzählungen daraus entstehen. Auch ein Herr Grell durchgeistert durch sein Werk, er könnte so etwas werden wie der Keuner für Brecht, aber das brauchte noch sehr viel Arbeit im Geiste. Zuerst aber hörte die vollbesetzte „Arche“ Lyrisches, von Schneebällen und Kindern, von seinen zunehmenden Zweifeln, ungläubig zu sein, was der Text „Hinter den Wolken ist noch Licht“ aus dem Band „Die Fünfzig. Gedichte“ bezeugt: „Der rechte Glaube überdauert ein Zeitalter selten. Wenn doch, könnte es der richtige Glaube sein ...“. In jedem Jahr gibt es ein erstes und ein letztes Gedicht, das erste im neuen Jahrtausend hieß „Am Grab“, Arbeit in ferneren Rundfunkanstalten, weil dem Osten und Norden das Geld ausgeht und er im „durchmagazinierten Tagesprogramm“ des RBB seine „Meinungen nicht loszuwerden“ kann. Er las ein Feuilleton zum fatalen Koffer im Dresdener Hauptbahnhof, sehr ordentlich für eine sächsische Tageszeitung geschrieben, ließ dann sein Publikum per Glosse wissen, wie Saddam und bin Laden in Hamburg zuggefahren sind, natürlich arabisch parlierend, nahm die neue Praxisgebühr aufs Korn, nie vergessend, für sein Werk und für sich, legitim, mit eloquentester Zunge zu werben, um in „Aufschwung durch Ausverkauf“ neben einer Plutoniumfabrik, völlig richtig, auch gleich die Bundesregierung in den Exportplan einzubeziehen. Dass er freilich auch in Deutschland überzählige Pappkartons für die nächste Hungersnot in Nordkorea bereitstellen wollte, rückt ihn in die Nähe des Stänkers Wiglaf Droste, und ein „Arche“-Besucher bezeugte es: „Zynisch“. Aber hinter den Wolken ist ja noch Licht. Überhaupt war die Reaktion des Publikums auf seine einstündige Lesung äußerst verhalten, kaum Fragen, kaum ein Disput. Es war, als hätte sich eine Lücke aufgetan zwischen Erwartung und Anspruch, welcher für den Berliner Autor „Poesie in spe“ zu heißen scheint. Den alten Rathenow gibt es nicht Den alten Lutz Rathenow jedenfalls gibt es nicht mehr, indes manche Kritiker dem „neuen“ (sich zur Freiheit bekennenden) eine „zahme Zunge“ vorwerfen. Lesen - ausdrucken - vergessen, den jüngeren Texten fehle die Wirkung, so brachte es einer im Raum auf den Punkt, worauf der Autor über Wirkungen im Allgemeinen sinnierte: „Es muss bei Büchern nicht immer um Literatur gehen!“. Das stimmt, aber er trug ja ausschließlich Texte solchen Anspruchs vor, seine „vielfach literarisch gespaltene Persönlichkeit", wozu dramatische Versuche genauso gehören wie die Erforschung „virtueller Zugänge“, irgendwo zwischen „Sarkasmus und Zärtlichkeit“ definierend,. Auch die Gummersbacher Werkstatt (Januar) wird ja elektronisch fortgesetzt. Sonst gibt es zu solcher Gesprächigkeit eigentlich mehr nicht zu sagen: Rathenow hat in vielen Ländern und auf mehreren Kontinenten gelesen, beifällig erwähnte er, vom gesamten Überwachungswerk der Stasi seien 8000 Blätter, zerschreddert, die Saale herabgeschwommen, 15000 blieben erhalten, auch der Name Sascha Anderson wurde erwähnt. Was sich heute gegenüber 1989 verändert habe? Dem Thüringer aus Berlin fiel dazu weniger ein als „Arche“-Steuermann Rainer Roczen, der bei der damaligen Lesung dabei war. Rathenow''s neues Buch sollte „Auch 2003 ist schon vorbei“ heißen, jetzt trägt es den Titel „Fortsetzung folgt“. Der nächste Vortrag in der „Arche“ findet am nächsten Dienstag um 19.30 Uhr statt. Thema: Das Herz der Kirche, Liturgie und Glaubensformen. Vortrag von Kaplan Ullrich Filler, Rösrath.

Gerold Paul

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