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Kultur: Auf zu Hitlers Orten?

Henryk M. Broder und Jana Simon im Kutschstall

Henryk M. Broder und Jana Simon im Kutschstall Er spottet mal wieder: Ein Marsmensch in Berlin, der das neue Holocaust-Mahnmal zwischen Potsdamer Platz und Brandenburger Tor betrachtet. Die 2711 aufgereihten Betonpfeiler. Für Henryk M. Broder sehen sie aus „wie der Friedhof einer klassenlosen Gesellschaft“. „Da hat sich der Hitler aber ein feines Plätzchen ausgesucht“, würde der Außerirdische denken, schön am Park gelegen, zentral, nette Nachbarn, stellt sich der Spiegel-Autor vor. Er wüsste ja nicht, dass der Führerbunker nur 150 Meter von dem Ort des Gedenkens für die jüdischen Opfer des Nationalsozialismus entfernt lag. Dass das Mahnmal auf dem Boden des ehemaligen Gestapo-Geländes steht. Aber Broder weiß das.„Es war einmal ein böser, heute ist es ein guter Ort“, schreibt er gewohnt ironisch in seiner Reportage „Über dem Führerbunker“. Ist eben Gras über die Sache gewachsen. Vergessen. Neuanfang. Broder sitzt mit gern gespielter Unschuldsmiene und einer Stimme, die nach Märchenerzähler klingt, auf dem Podium im Kutschstall. Seine Hand ballt sich hin und wieder kämpferisch zur Faust, als müsse er mit ihr die Provokation seiner Worte unterstreichen. Ganz offensichtlich: Es brodelt in Broder. „Böse Orte. Stätten nationalsozialistischer Selbstdarstellung – heute“ ist das Thema des Abends. Die Herausgeber und Autoren Stephan Porombka und Hilmar Schmundt stellen am Dienstag ihr gleichnamiges Buch vor. Zehn Reportageschreiber erzählen darin von einstigen NS-Kultstätten, die sie besucht haben. Obersalzberg in Bayern, Carinhall in der Schorfheide, das Reichsparteitagsgelände in Nürnberg, die Heeresversuchsanstalt Peenemünde. Neben Broder liest auch die Tagesspiegel-Autorin Jana Simon. Sie hat sich in Alt Rehse umgesehen, wo deutsche Ärzte in der Führerschule in Rassenkunde unterrichtet wurden. Das Thema interessiert. Kaum ein leerer Platz in den Stuhlreihen, Historiker, Studenten. Man kennt sich. Überall in Deutschland stolpert man über die Zeitzeugen aus Stein, die uns noch lange erhalten bleiben: Speers Germania-Beton-Testobjekt an der Berliner S-Bahn, Richtung Potsdamer Platz, in Berlin dürfte erst in über 4000 Jahren im Erdboden versinken, sagt Schmundt. Viel Zeit zum Erinnern. An die französischen Kriegsgefangenen zum Beispiel, die der Architekt zusammentreiben ließ, um den Koloss zu errichten. Doch nirgendwo ein Schild, ein nur kleiner Hinweis auf die Geschichte des Ortes. Die Herausgeber sehen das Buch als Bestandsaufnahme. Als Gegenwartsblick auf das, was aus den NS-Orten geworden ist. Es soll Frage aufwerfen. Wie soll man mit den Relikten in Zukunft umgehen? Bäume darauf pflanzen? Hotels bauen, wie in Obersalzberg? Jugendherbergen? Oder Dokumentationszentren, wie einst in Prora? Sie wissen darauf keine Antwort. Es gibt keine Musterlösung, sagen Schmundt und Porombka. Die Schreiber fanden oft maßlos überforderte Hobbyhistoriker, Bürgermeister und Gemeinden vor, die ratlos dem baulichen Erbe gegenüber standen. Ein böser Ort. Wie soll man damit umgehen, wenn im eigenen Dorf „Rassenhygiene“ gelehrt wurde? Jana Simon ist in Alt Rehse auf Menschen gestoßen, die die Vergangenheit ruhen lassen wollen. Sie suchen einen Investor, der auf dem Areal eine neue Zukunft baut. Der Verein, der Touristen über das Gelände führt und sie über die Führerschule für Ärzte aufklärt, sieht das anders. Böse Orte, böse Aura, nicht alle Zuhörer sind mit dem Titel und dem Buch an sich einverstanden. „Wird sich unter dieser Überschrift wohl besser verkaufen“, murrt ein Historiker. „Eine ironische Provokation“, erklären die Herausgeber. Erst durch falsche Mythen, Tabuisierung würden solche Stätten zu magischen, zu „bösen“ Orten. Der Historiker fühlt sich dann auch berufen zu einem provokativen Schlagabtausch mit Broder, der die Diskussion aber nicht voran bringt. Doch Broder freut sich. Er kommt jetzt zum Zug. Er sei gegen das Mahnmal. Und überhaupt: „Ich bin fürs Vergessen“, provoziert er. Man müsse sich einmal bewusst machen, wie schnell unsere Geschichte ist. „Heide Simonis hat länger regiert als Hitler“. Im nächsten Satz allerdings bezeichnet der Autor es als skandalös, dass in Deutschland weder der Deserteure noch der Euthanasieopfer gedacht werde. Schwer zurückzukommen zum Buch. Ob die bösen Orte nicht Pilgerstätten für Rechte werden könnten, befürchtet ein Zuhörer. „Deutschlandweit dürfte sich der Tourismus zu NS-Gedenkstätten und Mahnmalen auf jährlich mehr als eine Millionen Besucher belaufen“, weiß Schmundt. Unproblematisch sei das nicht. Wenn auch 95 Prozent der Touristen keine Neonazis sind. M. Hartig

M. Hartig

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