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Homepage: Wie viel Berlin steckt in Tel Aviv?

Joachim Schlör forscht und lehrt seit zehn Jahren am MMZ und bei den Jüdischen Studien der Universität Potsdam

Joachim Schlör forscht und lehrt seit zehn Jahren am MMZ und bei den Jüdischen Studien der Universität Potsdam Von Olaf Glöckner Tel Aviv, so scheint es, ist die große Liebe von Joachim Schlör. Über jene pulsierende, lebenshungrige Metropole am Mittelmeer, an deren Stelle noch vor 100 Jahren nur Sanddünen gähnten, hat er eine Hand voll viel beachteter Bücher geschrieben. Erst im November letzten Jahres brachte der Aufbau-Verlag den neuesten Band des habilitierten Potsdamer Kulturwissenschaftlers – Titel: „Endlich im Gelobten Land?“ – auf den Büchermarkt. Ein weiteres Mal ist es Schlör gelungen, deutsch-jüdische Emigrationsgeschichte anhand von biographischen Skizzen, Memoiren, Briefwechseln und privaten Fotos dem Vergessen zu entreißen. Am einfachsten ließe sich der humorvolle Schwabe wohl als ein leidenschaftlicher Spurensucher beschreiben, dem es immer wieder auch gelingt, die Potsdamer Studenten für historische „Schatzgruben“ zu sensibilisieren. Etwa dann, wenn im Seminar die unveröffentlichten Memoiren des einstigen Berliner Schriftstellers Sammy Gronemann rekonstruiert und anschließend sogar ediert werden . Historiker wie Judaisten wissen: Bei den Zeugen der so genannten „Fünften Alijah“ – jener 60 000 deutschen Juden, die sich, zumeist aus Berlin, vor Hitler noch ins damalige britische Mandatsgebiet Palästina retteten – hat ein unbarmherziger Wettlauf gegen die Zeit begonnen. Noch trifft man einige der Hochbetagten in den Großstädten Jerusalem, Tel Aviv und Haifa, oder auch am nördlichen Küstenstreifen in Richtung der libanesischen Grenze. Ihre Nachfahren, vollkommen assimilierte Israelis, wissen oft wenig mit dem historischen Erbe anzufangen. „Nicht selten“, so Joachim Schlör, „erfahren wir mit Entsetzen, dass gerade wieder der Nachlass eines prominenten deutschen Juden im Sperrmüll gelandet ist.“ Es war schwerlich vorauszusehen, dass im Forscherleben des heute 43-jährigen Schlör Israel, Tel Aviv und die „Fünfte Alijah“ einmal so eine zentrale Rolle spielen würden. Das jugendliche Interesse galt zunächst Osteuropa. „Mein Vater hatte mit der deutschen Wehrmacht in Polen gekämpft“, erzählt der Wissenschaftler mit nachdenklicher Miene, „doch er starb einfach zu zeitig, als dass ich ihn noch hätte befragen können. In seinem Nachlass fand ich ein deutsch-polnisches Wörterbuch – das war mein erster autodidaktischer Unterricht.“ Mit der Organisation „Aktion Sühnezeichen“ kam er später tatsächlich nach Polen, darauf folgten kulturwissenschaftliche Studien an der Uni in Tübingen, dort beteiligte sich der junge Mann an Forschungsprojekten zur jüdischen Regionalgeschichte und zu Biographien jüdischer Überlebender. Keineswegs aber war er nun auf Historie und Gedenkstättenarbeit festgelegt. Im Gegenteil – seine Promotion schrieb der studierte Kulturwissenschaftler zum Thema „Nachts in der großen Stadt“. Kurz vor Beginn des ersten Golfkrieges befand sich Joachim Schlör als Fellow am Institut für deutsche Geschichte in Tel Aviv. Der „einäugige deutsche Pazifismus“ im Angesicht irakischer Scud-Raketen habe ihn damals sehr wütend gemacht – und motivierte ihn bei der Spurensuche in Israel wohl noch mehr: „Ich bin dann der Frage nachgegangen, wie viel historisches Berlin in Tel Aviv zu finden ist. Eigentlich in allem – in der Schaufenstergestaltung, Architektur, Musik, Literatur, Kunst, in der ganzen Lebensweise.“ Die komprimierten Entdeckungen erschienen 1996 unter dem Titel „Tel Aviv. Vom Traum zur Stadt“. Spurensuche blieb in den Folgejahren die eine große Herausforderung – universitäre Arbeit wurde die andere. Schon Ende 1993 hatte der Historiker Julius H. Schoeps den emsigen Süddeutschen ans Moses Mendelssohn Zentrum in Potsdam (MMZ) geholt, womit alsbald auch seine Lehrtätigkeit bei den an der Uni Potsdam neu eingerichteten Jüdischen Studien begann. „Hier konnte ich“, bekennt Schlör, „meine Seminare eigentlich stricken, wie ich es selbst wollte. Des öfteren ließen sie sich auch mit Exkursionen kombinieren – die nächste wird übrigens ins Baltikum führen.“ Derweil gewann das Moses Mendelssohn Zentrum (MMZ) an internationalem Ruf, häuften sich Einladungen nach Moskau, London, Barcelona und Wien. 1999 organisierten Schlör und seine Kollegen eine internationale Konferenz „Preserving Jewish Archives“ in Potsdam, die vor allem auch osteuropäischen Historikern und Archivaren eine neue Standortbestimmung ermöglichen sollte. Gegenwärtig leitet Joachim Schlör das vom Bundesforschungsministerium gesponserte, aber an die Universität Potsdam angegliederte „Kompetenznetz Jüdische und Rabbinische Studien“. Für die Jüdischen Studien in Deutschland ist dies das erste Projekt seiner Art, erhofft werden Synergieeffekte durch eine engere Kooperation all jener akademischen Einrichtungen, die sich im Raum Berlin-Brandenburg mit jüdischen Themen befassen. Insbesondere für die Studenten in Potsdam und Berlin könnte sich ein stärkerer Austausch auszahlen, beispielsweise über eine gegenseitige, interdisziplinäre Anerkennung der Studienabschlüsse und deren Abgleichung nach internationalen Standards. Ins gemeinsame Boot sollen neben den Jüdischen Studien der Uni Potsdam unter anderen auch das Institut für Judaistik an der Freien Universität Berlin, die Kulturwissenschaften und das Institut Kirche und Judentum der Humboldt-Universität, das Zentrum für Antisemitismusforschung und das Abraham Geiger Kolleg geholt werden. Im Rahmen des Kompetenznetzes hofft Schlör auch auf die Etablierung eines Studienganges „Eastern European Jewish Studies“ – sein Faible für den Osten bleibt unverkennbar. Aber auch von westwärts flattern Angebote und neue Herausforderungen ins Haus. Seit einem Semester gibt der Potsdamer Forscher nun auch Lehrveranstaltungen zu einer umfassenden „Jewish History“ am renommierten Turo-College in Berlin-Charlottenburg. Ursprünglich eine amerikanisch-jüdische Akademie für angehende Wirtschaftswissenschaftler, haben sich Zweigeinrichtungen in verschiedenen europäischen Ländern und in Israel gebildet. „Ich war schon ein bisschen überrascht, als ich als Lehrinhalt die gesamte jüdische Geschichte, from the Second Temple until Today“, übertragen bekam. Aber es ist eine spannende Sache und völlig andere, neue Erfahrung“, so Joachim Schlör. Angesichts einer derartigen Fülle an Aufträgen und ehrgeizigen Plänen wird die Frage nach gelegentlichen Erholungsmomenten zum Muss. Schlör lässt sich Zeit, zieht genüsslich an seiner Zigarette und ist wieder ganz der Großstadtmensch: „Berlin ist nicht nur meine Wohnstatt, sondern auch Entspannung. Hier gehe ich oft mit der Kamera los, oder lade Freunde von weither ein, um ihnen all die Schönheiten der Stadt zu zeigen. Meine Freundin teilt übrigens meine Verrücktheiten, hat beruflich selbst viel mit Büchern zu tun. Und was wohl sehr wichtig ist: Wir können einander gut zuhören.“

Olaf Glöckner

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