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Die US-Serie "Vinyl" auf Sky: Aufstieg und Fall des Plattenproduzenten Richie Finestra im New York der 1970er Jahre.

© Sky

New York in den 70ern: die wilde US-Serie "Vinyl": Schnell, dreckig, überwältigend

Martin Scorsese und Mick Jagger haben mit „Vinyl“ eine fulminante Serie über das Musikgeschäft im New York der 1970er aufgelegt. Auch die Deutschen kriegen dabei ihr Fett ab.

Ein Mann in einem Auto in einem Hinterhof. Er sitzt gedankenverloren am Steuer, wartet, ist unruhig. Lautes, hektisches Atmen. Dann weißes Pulver auf einer Visitenkarte, den Stoff durch die Nase ziehen. Durchatmen. Plötzlich Schritte auf dem 70er-Jahre-Schlitten. Teenager jagen, über den Mann, auf dem Wagendach hinweg, stürmen auf ein Fabrikgebäude zu. Der Mann steigt aus seinem Auto, geht in das Gebäude, in eine Konzerthalle, starrt mit ungläubigen Augen auf die Bühne und erlebt das Rockkonzert seines Lebens. Was für ein fulminanter Beginn, was für eine Serie.

Und was für ein Ende, wenn sich 108 Minuten später in dieser Pilotfolge der Kreis um den Mann schließt: Konzert-Ekstase, Musiker und Fans flippen aus, Trümmer fallen auf die Bühne, Risse in der Hallenwand, Blitze aus Elektroleitungen. Staubwolken quellen auf, Schutt und Asche, die Halle stürzt ein. Der Mann mittendrin.

Oder ist alles nur ein Traum, Drogenrausch, Halluzination? Es braucht keine 108 Minuten, die ungewöhnliche Länge der Pilotfolge, um aus der neuen, auf Sky gestarteten US-Serie „Vinyl“ nicht mehr aussteigen zu können. Sie handelt vom Aufstieg und Fall des Plattenproduzenten Richie Finestra im New York der 1970er Jahre. Der kokssüchtige Boss von American Century Records lebt den echten Rock ’n’ Roll, immer auf der Suche nach schneller, dreckiger, überwältigender Musik. Zu Beginn der Serie liegt er am Boden, was nicht nur am Koks liegt. Die Ehe mit Model Devon (Olivia Wilde, bekannt aus „Dr. House“) steckt in einer Krise. Das von Finestra gegründete Plattenlabel steht vor dem Ruin. Ein Deal mit Led Zeppelin und damit der lukrative Verkauf seiner Firma an Polygram droht zu platzen. Finestras Firma hat kaum noch Erfolge. Zu viel Mittelmaß. Große Veränderungen bahnen sich an. In einer Szene taucht ein Abba-Song auf: ungewöhnte Töne zu der Zeit, für die Plattenmanager in den USA wie aus anderen Galaxien.

Kino goes Fernsehen. Zumal, wenn Martin Scorsese bei einem Serienprojekt seine Finger im Spiel hat. Mit der HBO-Serie „Vinyl“ haben Regie-Legende Scorsese und Rolling-Stones-Frontmann Mick Jagger als ausführender Produzent dem Musikbusiness ein Denkmal gesetzt. Passend zur derzeitigen Renaissance des Vinyl. Scorsese und Mick Jagger, der die Projektidee hatte, sind seit Langem befreundet. Es ist ihre Serie (zum Cast von „Vinyl“ gehört auch Mick Jaggers Sohn James, als Frontmann einer Punkrockband). Die beiden haben in Erinnerungen gekramt, aus dem Vollen geschöpft. Man meint, den Schweiß der Musiker auf der Bühne zu riechen, das Zittern des Konzertbodens vor dem Bildschirm zu spüren. Eine Hommage an den Geist von „Sex & Drugs & Rock ’n’ Roll“ und die Stadt New York der 1970er, stilecht ausgestattet wie seinerzeit „Mad Men“, mitgeschaffen vom Autor Terence Winter („The Wolf of Wall Street“).

„Niemand weiß doch mehr über Hass als Sie....äh, ich meine vor 30 Jahren.“

Gut, es wimmelt auch von Klischees. Brodelndes Musikbusiness, kiffende Stars, zerquälte Künstler. Das Sandwich-Girl in der Firma gilt als zu blöd, um eine Band zu entdecken. Nicht nur das Frauenbild, das diese Serie vermittelt, ist bedenklich. Koks, Pillen, Groupies, Russen-Mädchen, Schampus im Privatflieger zwischen München und New York, Richys Frau wartet zu Hause mit den Kindern, bis der Mann von der Koksparty zurückkehrt – das kommt in der tragikomischen Familienserie „Transparent“, zu sehen auf Amazon Prime Video, in der der Sohn Josh Pfefferman einen egomanen Plattenproduzenten gibt, sublimer daher.

Dafür hat „Vinyl“ die besseren Bilder. Sogar Humor. Wenn der ungelenke Assistenst Finestras bei den Vertragsverhandlungen mit der Polygram den Deutschen den Erfolg einer Band erklären will: Diese Musiker seien voller Hass. „Und niemand weiß doch mehr über Hass als Sie....äh, ich meine vor 30 Jahren.“ Immer wieder schön, das Deutschland-Bild in zeitgenössischen, angloamerikanischen Serien. Hitler und die Nazis waren noch nicht so weit weg.

„Eine sehr turbulente Zeit in der Kunst, im Film und in der Musik“, erinnert Martin Scorsese an die 70er. Während Flower Power und Psychedelic Rock unter der Sonne Kaliforniens gedeihen, formiert sich im heruntergekommenen New York eine urbane Anti-Haltung – der Punk wird geboren. Bald darauf erobert im legendären „Studio 54“ der Disco-Sound die Tanzfläche und die ersten DJs beginnen mit dem Sampling von Stücken. Das Musikbusiness ändert sich im rasanten Rhythmus.

Mittendrin und sich für einen Emmy-TV-Preis empfehlend: Hauptdarsteller Bobby Cannavale, der bereits in Scorseses Prohibitions-Serie „Boardwalk Empire“ mitspielte. Zur Vorbereitung auf seine erste große Hauptrolle als Labelchef hat er sich mit Punk-Vorreitern wie Patti Smiths Gitarrist Lenny Kaye und dem New-York-Dolls-Sänger David Johansen getroffen, um alles über die wilden 70er Jahre in New York zu erfahren. Das Ganze war als Kinofilm geplant. Es ist der Serie in jeder Minute anzumerken.

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