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Landeshauptstadt: Lange Kerls in neuem Licht

In den Flügelkompanien standen nicht nur übergroße Grenadiere /Quellenauswertung durch Jürgen Klosterhuis widerlegt Legenden über des Soldatenkönigs „blaue Kinder“

In den Flügelkompanien standen nicht nur übergroße Grenadiere /Quellenauswertung durch Jürgen Klosterhuis widerlegt Legenden über des Soldatenkönigs „blaue Kinder“ Von Erhart Hohenstein Streng genommen gab es die „Langen Kerls" nur knapp 30 Jahre, von 1713 - 1740. Dann löste der neue König Friedrich II. die sowohl als Kampftruppe wie auch als Palastgarde dienende Formation seines Vaters bis auf ein Bataillon, die Grenadiergarde Nr. 6, auf. Dennoch leben die übergroßen Soldaten bis heute in Legenden und Anekdoten weiter. Nach diesen Legenden wird der Leser in dem von Jürgen Klosterhuis herausgegebenen mehr als 700-seitigen Band „Legendäre ''lange Kerls''" vergebens suchen. Der Direktor des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz nutzt ausschließlich amtlich-authentische Quellen über das Königsregiment Friedrich Wilhelms I. Davon ist mit dem Heeresarchiv Potsdam 1945 ein großer Teil verloren gegangen. Erhalten sind aber u. a. 21 Jahresbände der „Kabinettsminüten". Darin sind alle Kabinettsordres des Königs erfasst, etwa 6000 im Jahr, von denen sich jeweils rund 300 auf das Königsregiment bezogen. Klosterhuis hat sich als erster die immense Arbeit gemacht, 12 dieser Minütenbände komplett auszuwerten. Außerdem hat er alle anderen erhaltenen Archivalien wie z.B. Rangierrollen (Verzeichnis der Regimentsangehörigen) oder auch das Militärkirchenbuch der Garnisonkirche einbezogen. Dieser hohe Aufwand hat sich gelohnt, denn er lässt die Langen Kerls auf einigen Gebieten in neuem Licht erscheinen. Das beginnt schon mit der Körpergröße, die mindestens sechs rheinländische Fuß (1,883 m) betragen sollte. Doch die Maße sind in den Rangierrollen nicht angegeben. Zwar kennt man sie aus anderen Quellen für einige wenige besonders groß gewachsene Grenadiere, beispielsweise den norwegischen Schmiedeknecht Jonas Henrikson (6 Fuß, 9 Zoll) oder den nach der Regimentsauflösung als Heiduck in den Hofstaat Friedrichs II. übernommenen Iren James Kirkland (Angaben zwischen 6 Fuß, 11 Zoll - 2,09 m - und 6 Fuß, 8 Zoll). Klosterhuis erschließt jedoch aus den Quellen, dass das Gros wohl zwischen 1,80 und 1,90 m maß. Ebenso interessant ist sein Hinweis auf die Flügelmänner und die aus ihnen bei Manövern und Übungen zeitweilig und später dauernd gebildeten Kompanien. Zwar wurde das erste Glied der Leibkompanie von Riesen flankiert, für die Flügelgrenadierkompanien reichten aber 1,70 - 1,75 m aus. Hier rückte nämlich die Kampfkraft, für die „wohlgemachte bertige alte Soldaten" wichtiger waren als überlange, gegenüber der Körpergröße in den Vordergrund. Bei der Werbung der Großgrenadiere im deutschen und nichtdeutschen Ausland waren Gewalt und List nicht die Regel, sondern die Ausnahme. An Hunderten von Quellen macht Jürgen Klosterhuis deutlich, dass sie meist geschäftsmäßig abgewickelt wurde, mit Festlegungen zu Reisekosten und Prämien für die Werber, Feilschen um Handgeld und Sold für die Angeworbenen und großzügigen Geschenken für die Landesherren außerhalb Preußens, damit sie die Werbung auf ihrem Hoheitsgebiet erlaubten. Ebenso räumt der Archivar mit der Behauptung auf, Friedrich Wilhelm I. habe die Abrechnungsbelege über die Werbung vernichten lassen, um vor der Nachwelt die extrem hohen Kosten zu verschleiern. Abschriften der Zahlungsanweisungen an die Rekrutenkasse sind in den „Minüten“ nachzulesen. Klosterhuis kommt auf etwa 1,7 Millionen Reichstaler Werbungskosten. Für den Unterhalt des Königsregiments von 1713 – 1740 setzt er 6,4 Millionen Reichstaler an. Die Einmaligkeit des Königsregiments bestand laut Klosterhuis darin, dass seine Doppelrolle als Kampftruppe und Palastgarde im Unterschied zu anderen europäischen Ländern zu höchster Perfektion geführt wurde. Die Ergebnisse seines Quellenstudiums fasst der Autor in einer 46-seitigen Einleitung zusammen, der 706 Seiten Dokumente, Abbildungen und Anhänge folgen. Selbst wenn die Schriftstücke zum großen Teil als Regesten (also in heutiger Schreibweise) wiedergegeben werden – sich da durchzulesen, erfordert einen langen Atem. Andererseits wird dem Leser eine Fülle von interessanten, manchmal auch vergnüglichen Details über die militärischen und die nichtmilitärischen Seiten des Soldatenlebens im Königsregiment vermittelt. Dazu gehört auch, dass die Grenadiere im 18. Jahrhundert nicht wie später abgeschottet von der Zivilbevölkerung lebten, sondern Bestandteil des Potsdamer Stadtlebens waren. Die Quellenedition von Klosterhuis setzt auch Maßstäbe für die Autoren populärer Bücher über die Langen Kerls. Sie können an den neuen Forschungsergebnissen nicht vorbeigehen. Die nur mündlich überlieferten Anekdoten über des Königs „blaue Kinder“ sollten sie dennoch nicht auslassen. Legendäre „lange Kerls“, Quellen zur Regimentskultur der Königsgrenadiere Friedrich Wilhelms I. 1713 - 1740, bearbeitet von Jürgen Klosterhuis, Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin 2003, 752 Seiten, 45 Schwarz-Weiß-Abbildungen, 62 €, ISBN 3-923579-03-9

Erhart Hohenstein

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