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Landeshauptstadt: Geschichte mit Überstunden

Schüler des Humboldt-Gymnasiums erinnern an ein fast vergessenes Kapitel deutscher Geschichte

Schüler des Humboldt-Gymnasiums erinnern an ein fast vergessenes Kapitel deutscher Geschichte 1941, in einem Lazarett in Leningrad. Ein junger, russische Soldat liegt im Sterben. Ein älterer Mann hat Mitleid, tritt an den Jüngeren seine Lebensmittelration ab und verstirbt wenig später selbst. Der Retter war der Vater der kleinen Nina, die gerade zur Welt gekommen war. Heute ist sie Direktorin der Schule 210 in Sankt Petersburg. Seit 2002 unterstützt Nina Wasiljewna Potjomkina eine Schülerpartnerschaft mit dem Humboldt-Gymnasium der Stadt Potsdam. Warum begegnet uns diese Frau, deren Vater im Russlandfeldzug der Nazideutschen das Leben ließ, mit so viel Herzlichkeit? Diese Frage bewegte die 26 Schüler der Klasse 9c des Humboldt-Gymnasiums. Marion Seitz, die Klassenlehrerin mit den Fächern Russisch, Politische Bildung und Geschichte, entwickelte daraus die Idee für ein fächerübergreifendes Schulprojekt. In dessen Mittelpunkt steht der heutige Umgang mit den Ereignissen der Leningrad-Blockade. Der Verein MitOst e.V. entschied sich bei einer Wettbewerbsausschreibung für das Projekt und fördert es aus seinem Fond „Erinnerung und Zukunft“ mit rund 20000 Euro. „In aktuellen deutschen Schulbüchern wird die Blockade von Leningrad gerade mal in zwei Sätzen abgehandelt“, weiß Anja. Ihre Arbeitsgruppe hat russische und deutsche Schulbücher und Lehrpläne durchforstet. Hingegen seien in Russland und natürlich vor allem in Sankt Petersburg die Ereignisse und das erlittene Leid während der 900-tägigen Blockadezeit zentraler Bestandteil des Geschichtsunterrichts, fügt sie hinzu. Auf einer CD-Rom werden die Neuntklässler die Ergebnisse dieser Auswertung sowie Interviews mit russischen Zeitzeugen, Fotos von historischen Dokumenten und Fakten zur Blockadezeit zusammenstellen. Der Datenträger wird nicht nur die Projektergebnisse dokumentieren, sondern soll zukünftig auch im deutschen und russischen Schulunterricht eingesetzt werden. „Bis Oktober“, denn dann soll die CD spätestens fertig sein, „müssen wir noch einige Überstunden machen“, gesteht die Klassenlehrerin. Kaum zurück aus Sankt Petersburg, gibt es für sie und die Schüler noch viel zu tun. Denn die russischen Partnerschüler werden im September in Potsdam zu Besuch sein. Auch das will organisiert werden. Im Mai diesen Jahres haben die Potsdamer Gymnasiasten eine Woche in Sankt Petersburg bei ihren Gastfamilien verbracht. Der besondere Höhepunkt: die Feierlichkeiten zum 60. Jahrestag der Befreiung durch die Sowjetarmee. „Es war schon beeindruckend, diese ganzen Menschen in der Stadt. Man konnte deutlich spüren, wie stolz die Leute dort auf diesen Tag sind“, erzählt Florian. Etwas komisch hätte sie sich schon gefühlt, ergänzt Anne, „irgendwie schuldig eben“. Sebastian erinnert sich, dass ihm sein Partnerschüler an dem Tag riet, in der Stadt besser nicht so laut deutsch zu reden. Unmittelbarer kann die Auseinandersetzung mit Schuld und Erinnerung wohl kaum stattfinden. „Was die Schüler direkt vor Ort mitbekommen haben, kann keine Unterrichtsstunde ersetzen“, findet auch Marion Seitz. In Museen und Gedenkstätten haben sich die Schüler intensiv mit der Frage beschäftigt, wie heute in Sankt Petersburg den Ereignissen der Leningrad-Blockade gedacht wird. Noch stärker wiegen dürfte aber die Erfahrung, dass Wege der Annäherung und des Zusammenwachsens 61 Jahre nach der Blockade wieder möglich sind. Das haben die Jugendlichen am deutlichsten in den Gastfamilien erfahren. So erzählt Antje über den Großvater der russischen Austauschpartnerin, der jede Gelegenheit nutzte, mit dem jungen Besuch aus Potsdam deutsch zu reden. Tania Greiner

Tania Greiner

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