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Landeshauptstadt: Ein Zimmer, Küche, Bad

Ambulantes Projekt für geistig Behinderte: Karl-Heinz Lenz lebt jetzt in einer eigenen Wohnung

Ambulantes Projekt für geistig Behinderte: Karl-Heinz Lenz lebt jetzt in einer eigenen Wohnung Von Marion Hartig Karl-Heinz Lenz strahlt über das ganze Gesicht. Ein Zimmer, Küche, Bad. Lange hat er auf seine erste eigene Wohnung warten müssen. Er führt durch sein neues Reich, zeigt das kleine, quadratische Bad, in dem noch die Waschmaschine fehlt, die Kochnische mit den zwei Herdplatten und den nagelneuen Kühlschrank, den hellen Wintergarten mit Blick auf die gegenüberliegenden Wohnhäuser und die Markthalle. Er setzt sich auf das bunte Sofa, das er nachts zum Bett umbaut. Vorsichtig, wie um nichts zu beschädigen, lehnt er sich nach hinten. Seit Dezember wohnt Karl-Heinz Lenz in seiner Wohnung im Zentrum Ost. Er ist einer von sieben Teilnehmern eines Modellprojektes der Theodor Fliedner Stiftung, mit dem das ambulante Wohnen von geistig Behinderten und seelisch Erkrankten unterstützt werden soll. Und er hat Glück gehabt, unter den ersten sieben zu sein. Die Wartelisten für die Ein-Zimmer-Wohnungen sind lang. Bis zu seinem Einzug hat Karl-Heinz Lenz in einer Zweier-Wohngemeinschaft der Fliedner Stiftung im Behlerthof gelebt. Mit einem Mitbewohner teilte er sich Bad und Küche. Eine betreute Wohngemeinschaft, erklärt Ellen Kreutzer. Sie ist eine seiner zwei Betreuerinnen. Zweimal in der Woche besuchen die Frauen Karl-Heinz Lenz und sehen nach, ob alles in Ordnung ist, ob er sich in seiner neuen Umgebung wohl fühlt. Er fühlt sich sehr wohl, sagt der 48-Jährige nach den ersten Wochen Allein-Wohn-Erfahrung. Niemand, der Krach macht, wenn er schlafen will, niemals fremder Dreck in der Küche, den er wegputzen muss. Morgens um halb fünf steht er auf, duscht, schmiert sich eine Stulle mit Wurst. Um halb sieben fährt er mit dem Bus zur Werkstatt nach Hermannswerder, wo er als Gärtner arbeitet. Alles ohne Hilfe. Um halb vier Uhr nachmittags ist er dann wieder zurück in seiner Wohnung. „Ich mache die Tür auf und freue mich“, erzählt er. Er hört sich Schlager-CDs an, guckt im Fernsehen „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“, „Unter uns“ oder Krimis auf Pro 7. Als er noch kein Besteck in seiner Schublade hatte, ist er einmal in dem Restaurant neben der Markthalle essen gegangen. Die Frau dort war sehr nett, erinnert er sich. Sie hat ihm Messer und Gabel für Zuhause geliehen. Mittlerweile hat er Besteck gekauft und das aus dem Restaurant zurückgebracht. Einsam hat sich Karl-Heinz Lenz bisher nicht gefühlt. Sein Nachbar, ein Bekannter aus dem Behlerthof, der in die Wohnung ein paar Türen weiter eingezogen ist, kommt manchmal vorbei. Er borgt sich Salz, sitzt mit ihm auf dem Sofa, trinkt Kaffee und sieht fern. Dabei ist die Einsamkeit eines der größten Probleme beim ambulanten Wohnen, weiß Ellen Kreutzer. Die Fliedner Stiftung hat ihre Erfahrungen gesammelt. In elf in Potsdam verteilten Wohnungen hat sie Behinderte betreut, die selbstständig einen Haushalt führen, einkaufen gehen, zur Arbeit fahren. „Das Lebenspraktische lässt sich meist gut regeln“, sagt Ellen Kreutzer. Es gelingt aber selten, Kontakte zu knüpfen, Nachbarn kennen zu lernen. Was bleibt ist Einsamkeit – oder mit Bus und Bahn lange Wege zu Bekannten und Freunden in Kauf zu nehmen. Das in Brandenburg einzigartige Modellprojekt versucht nun dieses Problem aufzufangen. Die sieben Teilnehmer werden in direkter Nachbarschaft, in einem Haus untergebracht. Sie können sich ohne großen Aufwand besuchen, Geschirrtücher ausleihen, zusammensitzen, gemeinsam spazieren gehen. Ein Büro der Fliedner Stiftung soll im Haus eingerichtet werden. So dass im Notfall immer jemand zum Helfen da ist. Karl-Heinz Lenz bekommt kleine Notfälle mittlerweile auch ohne Betreuer ganz gut hin. Neulich ist es in seiner Wohnung auf einen Schlag dunkel geworden. Er hat sich zum Sicherungskasten getastet und einfach die Knöpfe wieder reingedrückt. Schon war das Problem behoben, erzählt er stolz. Er hat sich gut eingelebt, kennt sich im Haus aus, weiß, in welchen Bus er steigen muss, um Freunde zu besuchen. Demnächst wird er sich mit seiner Betreuerin in der näheren Umgebung umschauen. So selbstständig wie möglich sollen die Betreuten leben, beschreibt Ellen Kreutzer das Anliegen der Fliedner-Stiftung. Vor ihrem Einzug in ein unabhängigeres Leben lernen sie zunächst im Wohnheim, dann in Wohngemeinschaften (WG) Schritt für Schritt Verantwortung für ihr Leben zu übernehmen. Karl-Heinz Lenz kommt inzwischen gut klar, nur Geld einzuteilen fällt ihm schwer. Sein gerichtlich bestellter Betreuer, sein Vormund, hilft ihm, seine Einkünfte zu verwalten. Dazu gehört auch die Rente, die er sich in vielen Jahren Arbeit auf einem Bauernhof verdient hat. Einige Jahre lebte der 48-Jährige im Haus Pfingstberg, einem vollstationären Heim in Potsdam, bevor er in die Behlerthof-WG zog. Er kommt aus der Stadt Brandenburg, wuchs mit einer Schwester, einer Zwillingsschwester und einem Bruder auf. Wenn er an seine Kindheit denkt, erinnert er sich an Untersuchungen, viele Spritzen, dass er oft in der Klinik war, mit der Mutter allein zu Hause gelebt hat, als die Geschwister ausgezogen waren. Der mit Schokolade gefüllte Adventskalender auf dem Tisch ist ein Geschenk seiner Zwillingsschwester, erzählt er. Ab und zu besuchen ihn die Geschwister. „Sie haben aber wenig Zeit“, sagt Karl-Heinz Lenz, „sie müssen viel arbeiten.“ An seinem ersten Wochenende in der neuen Wohnung hat er sich in einer Pfanne Kotelett gebraten. Dazu gab es nichts weiter, Töpfe für Gemüse hatte er noch keine im Schrank. Demnächst wird er einen Teil seiner Wochenenden mit den Bekannten aus dem Haus und einer Betreuerin der Fliedner-Stiftung verbringen, er wird mit ihnen zum Bowlen oder ins Kino gehen oder durch die Stadt spazieren. Außerdem muss er die vielen Dinge besorgen, die in seinem Haushalt noch fehlen: Wischmopp, Wasserkocher, Spiegelschrank im Bad, die Jalousien vor dem Fenster. Und die Landschaftsbilder, die jetzt noch am Tischbein lehnen, warten darauf, an die Wand gehängt zu werden.

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