zum Hauptinhalt

Landeshauptstadt: Der Einzelfall

Lange Zeit wollte die Stadt den Betreuer für Arved (5) nicht bezahlen. Die Eltern kämpften, nun tut sie es doch

Lange Zeit wollte die Stadt den Betreuer für Arved (5) nicht bezahlen. Die Eltern kämpften, nun tut sie es doch Von Guido Berg Der grauen Neubaublock in der Jägerallee wirft die Frage auf, ob die Stasi wirklich in dem Achtgeschosser in der Hegelallee saß – oder vielleicht doch hier? Die Flure sind schmal, schlecht beleuchtet und an den Türen stehen mit schwarzer Farbe aufgetragene Nummern, deren Bedeutung wohl seit 1990 niemand mehr kennt. Etwa alle 30 Sekunden öffnet sich eine Tür und es ist immer die gleiche Prozedur: Eine der hier arbeitenden Damen tritt mit einer Akte unterm Arm heraus, schließt die Tür ab, geht zu einer anderen Tür, schließt sie auf und verschwindet dahinter. Stille. Dann geht die nächste Tür. Manchmal schließt sich eine Tür in dem Moment, in dem sich eine andere öffnet. Die Tür zum Zimmer 218 ist seit fast einer Stunde geschlossen. Doch diese Zeit bringen Kirstin Weigmann und Holger Zippel nun auch noch auf. Hinter der Tür zu Zimmer 218 wollen sie jetzt endlich hören, ob es sich im Zweifel zu kämpfen lohnt. Die Eltern des kleinen Arved waren schon oft im Potsdamer Sozialamt. Das erste Mal hatte Kirstin Weigmann im Januar beantragt, ob die Stadt Potsdam nicht die wöchentlich 7,5 Stunden für Henry finanzieren könnten. Mittlerweile zeigt der Kalender September. Henry ist Sonderpädagogik-Student und seit dreieinhalb Jahren der Einzelfallhelfer von Arved. Der Fünfjährige ist in Folge von Geburtskomplikationen zu achtzig Prozent schwerbehindert. Spastische Athetose sagen die Ärzte, eine zentrale Koordinierungsstörung. Arved kann kaum laufen. „Wenn er geht, hält jeder den Atem an“, sagt Kirstin Weigmann. Gehen heißt fallen für den Jungen. Wenn er nicht von bereiten Händen gehalten wird. Damals, im Januar, war Kirstin Weigmann noch schwanger. Wenn sie ihre im April geborene Tochter Gwen stillt und Arved gerade auf der Toilette sitzt, muss er eben sitzen bleiben, bis Mama Zeit für ihn hat. Der Papa kommt nach 20 Uhr nach Hause. Er arbeitet in Neukölln. Aber es ist nicht nur, damit es für ein paar Stunden in der Woche die Hände von Henry sind, die Arved am hinfallen hindern. Es ist auch nicht nur, weil Henry an manchen Tagen die anstrengende Krankengymnastik mit dem Jungen macht, damit dessen Muskeln und Sehnen beweglich bleiben. Und obwohl es ein wichtiger Punkt ist: Es ist auch nicht nur, weil Arved und Henry Freunde geworden sind. Die Eltern schreiben deshalb Widerspruch auf Widerspruch, schalten das Gericht und die Sozialministerin ein, schreiben an Bundestagsabgeordnete und wenden sich an die Presse, weil die Ablehnung des Einzelfallhelfers durch das Sozialamt schlicht zum Widerspruch reizt. Kirstin Weigmann und Holger Zippel wohnten vorher in Berlin. Dort wurde Henry anstandslos gewährt. Später zogen Arveds Eltern nach Eichwalde. Auch das zuständige Sozialamt Lübben übernahm die Kosten für den Einzelfallhelfer. Im Januar 2005 zog das Paar nach Potsdam. Es sieht hier durch die integrativ arbeitende Montessori-Gesamtschule später bessere Bildungschancen für Arved. Einzelfallhelfer? „So etwas hat es in Potsdam noch nie gegeben“, hört die Hochschwangere in der Landeshauptstadt. Berlin, Lübben und Potsdam sind Städte im Geltungsbereich des Sozialgesetzbuches (SGB XII) – wie kann abgelehnt werden, was schon zwei Mal genehmigt wurde? Das wollen die Eltern nicht hinnehmen. Aber es ist auch, weil Sachbearbeiterinnen solche Sachen sagen wie: „Ein Sozialamt hat nicht unbedingt etwas mit Gerechtigkeit zu tun.“ Was soll das denn bedeuten? Kirstin Weigmann will ebenso nicht verstehen, was Sozialamtsmitarbeiter Hans-Joachim Soeffner meinte als er formulierte: „Wir entscheiden nicht nach dem Wunsch der Mutter, sondern nach dem Bedarf des Kindes.“ Irgendwann kündigt die junge Mutter der Sachbearbeiterin an, sie werde kämpfen. Wenn die Kinder im Bett sind und Holger Zippel Feierabend hat, fangen die beiden an, Einsprüche und Briefe zu schreiben, Akten zu studieren, Klageschriften zu verfassen. „Wenn die gesagt hätten, wir haben kein Geld und müssen sparen, dann hätte ich gesagt, das ist okay“, erklärt Kirstin Weigmann. „Aber so nicht!“ Der Druck wächst. Die Bundestagsabgeordnete Andrea Wicklein (SPD) schaltet sich ein. Sie wendet sich an die Sozialbeigeordnete Elona Müller. Gegenüber den PNN spricht diese noch von einer drohenden „Überforderung“ von Arved durch den Einzelfallhelfer – da hatte sie sich schon persönlich bei Kirstin Weigmann entschuldigt und eine „Fallkonferenz“ in dem Fall angeordnet. Freilich, signalisiert sie, nicht deshalb, weil Arveds Eltern zu kämpfen wissen. Die „Fallkonferenz“ führt zum mentalen Tiefpunkt für Arveds Mutter. Die Damen am langen Tisch sprechen von „viel Verständnis“, sie glaubt aber zu spüren, dass sie den Einzelfallhelfer nie bewilligen wollen. Sie glaubt, dass die Damen ihr die Worte im Mund umdrehen. Vor ihnen liegt die Akte, aber „sie fragen Fragen, als ob sie da noch nie reingesehen haben“. Ihr standen die Tränen in den Augen, „ich wäre für jedes andere Kind an dieser Stelle in die Schlacht gezogen“, doch da fehlt ihr plötzlich Kraft und Stimme. Sie soll unterschreiben, das diese Fallkonferenz auch gleich als Anhörung angesehen werden kann. Sie weiß nicht mehr, ob das gut oder schlecht ist. Drei Mal wird ihr gesagt, sie soll doch jetzt mal unterschreiben. „Das war einmal zu oft gesagt“, sie unterschreibt nicht. Ergebnis der Fallkonferenz ist, dass Arved noch einmal von der Amtsärztin untersucht werden muss. Das geschieht auch. In der zurückliegenden Woche aber kommt ein Brief, die Eltern sollen am Donnerstag im Sozialamt erscheinen. Man hätte eine Lösung. Die Damen lächeln auf dem Flur Arveds Schwester Gwen zu. Mit ihr war Kirstin Weigmann schwanger, als sie den Erstantrag für den Einzelfallhelfer stellte. Nun ist das Kind fünfeinhalb Monate alt. Ein Bekannter wartet mit ihr auf dem Korridor. Irgendwann öffnet sich die Tür zu Zimmer 218. Der Eltern Blick ist ohne Triumph. Sie wollen nur raus. An der frischen Luft erzählen sie, dass das Amt die Kosten für Einzelfallhelfer Henry nun übernehmen wird. In großzügiger Weise.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false