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Landeshauptstadt: An der Grenze

Mario Schenk hat zwei Jahre in einer mexikanischen Schule gearbeitet: Potsdam - Tijuana und zurück

Mario Schenk hat zwei Jahre in einer mexikanischen Schule gearbeitet: Potsdam - Tijuana und zurück Von Felix Wadewitz Tijuana im Norden Mexikos, an einem Mittwochmorgen. Der Löwe gewinnt, er ist schneller. Schon setzt der König der Tiere zum Sprung an. Das Zebra hat keine Chance. Schnitt. Die Szene wird in Zeitlupe wiederholt. Dann geht es von den Löwen in der Savanne ins Meer. Wale tauchen vor der Küste Kaliforniens auf. Die Tiere sind imposant in Szene gesetzt, fast wie im Hollywood-Film. Nach fünfzehn Minuten ist alles vorbei, der Bildschirm erlischt. Dreißig Schüler der achten Klasse haben gerade die Sendung „Bewegung und Anatomie von Lebewesen“ gesehen. Der Fernseher in ihrem Klassenzimmer zeigt nur ein Programm: das staatliche, mexikanische Schulfernsehen. Die Schule ist die einzige weiterführende Schule in der Nähe und die einzige, die ihre Eltern bezahlen können. Dafür gibt es keinen Lehrer, sondern Gonzales, der das Band vor- und zurückspult. Gonzales ist nett, Fragen kann der junge Mann aber nicht beantworten. Gonzales hat nie Biologie studiert. Das hat auch Mario Schenk nicht. Doch bestand seine Aufgabe darin, den Schülern am Nachmittag beizubringen, was am Vormittag im Trubel der 40-Mann-Klassen untergegangen war. Der 22-jährige Potsdamer war zwei Jahre lang Zivildienstleistender in einem Gemeindezentrum in Tijuana. „Überfüllte Klassen, schlecht oder gar nicht ausgebildete Lehrer: Die Folge sind zwölfjährige Kinder, die nicht richtig lesen und schreiben können“, sagt Schenk. Von ihnen kamen einige am Nachmittag in das von Jesuiten getragene Gemeindezentrum, das Centro de Comunidad. „Und da war dann ich.“ In den ersten Monaten als Lehrer von zehn bis zwölf Sechstklässlern war der Potsdamer permanent überfordert. „Mit den Problemen, den Konflikten, dem Geschrei, den Provokationen – hätten die Jesuiten aus irgendeinem Grund gesagt ,Das war“s!“ – ich wäre froh gewesen, gehen zu dürfen.“ Da ihm die Entscheidung niemand abnahm, blieb Schenk. Tijuana – viele Deutschen kennen die Stadt aus dem Kinofilm „Traffic“, in dem es um Drogenkartelle geht, die die Stadt regieren. 2,4 Millionen Menschen leben in der Grenzstadt, bis Kalifornien sind es nur wenige Kilometer. Die Metropole liegt zwischen dem amerikanischem Traum und dem mexikanischem Albtraum. Die meisten Einwohner sind aus dem Landesinneren in den Norden gezogen, weil sie von einer Flucht in die USA träumen. Dort wollen sie das verwirklichen, von dem sie glauben, dass es der „American Way of Life“ sei. Von all denen, die noch da sind, schuften viele in amerikanischen Fabriken. Mehr als die Hälfte aller in den USA verkauften Fernseher werden in Tijuana produziert. Ihre Kinder schicken die Billiglöhner in öffentliche Schulen. Eine Wahl haben die wenigsten. Privatschulen kann kaum einer bezahlen, selbst die Staatlichen kassieren Gebühren. Dort haben die Schüler die geringsten Chancen, etwas zu lernen. Das wissen auch die Lehrer, die dort unterrichten. „Ich bin mit einer Lehrerin einer öffentlichen Schule in Tijuana befreundet“, erzählt Schenk. „Sie fährt nach ihrem Unterricht nach San Diego, um dort die Nachtschicht bei McDonalds durchzuschuften – von dem Lohn schickt sie ihre Kinder auf eine Privatschule.“ Irgendwann hatte auch Mario Schenk den Dreh raus. Er lernte, Ruhe auszustrahlen, die Schüler individuell zu fordern, die Wünsche der Kinder jeden Nachmittag neu zu koordinieren: Der eine musste für den Spanisch-Test ein Gedicht lernen, bei einer anderen haperte es mit dem kleinen Einmaleins, ein Dritter wollte eine Skizze für den Biologieunterricht auf das Papier bringen. „Die Stärken der Kinder zu betonen, statt ständig auf den Schwächen herumzuhacken ist wichtig“, meint Schenk. Dann erzählt er von Luis. Dessen Vater war Drogendealer und Schläger – aber eben auch ein fürsorglicher Papa. Als Luis mit neun Jahren noch nicht richtig rechnen und lesen konnte, schickte der Vater den Jungen in das Schulzentrum der Jesuiten. Dort tat Luis alles, um Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Schenk, der ihm anfangs die Grenzen klar machte, war für Luis ein Gegner. Knapp zwei Jahre später gewann Luis einen Lesewettbewerb und zum Abschied schrieb der Junge einen Brief an „Mario, meinen besten Freund“. Jetzt ist Mario Schenk zurück in Potsdam. Die Zeitungen sind voll mit Berichten über schlechte Schüler, schlechte Lehrer, miese Unis und vermeintliche Wege an die Pisa-Spitze. Noch steht in Deutschland ein Biologie-Lehrer im Klassenraum und nicht nur ein Bildschirm. „Die Unterschiede zwischen Deutschland und Mexiko verringern sich aber – und leider ist es nicht so, dass Mexiko besser wird“, glaubt Schenk. Studiengebühren? Elite-Universitäten? „Diese Ideen sind bekloppt.“ Schenk ärgert die Richtung der Debatte. „So was spaltet die Gesellschaft.“ Das sei in jedem Dritte-Welt-Land zu besichtigen, in Mexiko habe er es jeden Tag beobachtet. „Kostenlose Bildung ist doch der größte Schatz, den wir in diesem Land haben. Oder wollen wir, dass auch deutsche Mütter nachts in Fabriken arbeiten, damit die Kinder eine gute Schule besuchen können?“ Auch in Deutschland, müssten die Schülerzahlen pro Klasse verringert werden, um die Lehrer zu entlasten. Auch müssten die Schulen mehr Aktivitäten anbieten. „Nur so, das habe ich in Tijuana beobachtet, können die individuellen Stärken von Schülern erkannt und deren Selbstbewusstsein gesteigert werden.“ Und nur selbstbewusste Kinder versuchen, etwas gegen ihre Schwächen zu tun. So entscheide sich, wer selbst bestimmt lebe – und wer nicht. Oft genug aber ginge auch engagierten Lehrern die Luft aus, wenn es an Unterstützung mangele. Über seine eigene Schulzeit am Potsdamer Humboldt-Gymnasium sagt Mario Schenk: „Glück gehabt.“ Zwischen Pädagogen und Schülern habe es Vertrauen gegeben, „dafür bin ich meinen Lehrern dankbar“. Schenks ehemaliger Erdkunde-Lehrer ist mittlerweile Bildungsminister geworden. Wird Holger Rupprecht die Schulen in Brandenburg dorthin steuern, wo Schenk sie sich wünscht? „Ruppi, also Herr Rupprecht, hat zumindest eine Auge für diese Dinge.“

Felix Wadewitz

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