zum Hauptinhalt

Landeshauptstadt: 12.42 Uhr: Die erste Flasche fliegt

Knapp 300 Rechtsradikale wollten durch die Potsdamer Innenstadt marschieren. Mit drei Gegendemonstrationen wollte die Stadt friedlich Farbe bekennen. Doch durch gewaltbereite Autonome kam alles anders: Eine Rekonstruktion der Ereignisse

Knapp 300 Rechtsradikale wollten durch die Potsdamer Innenstadt marschieren. Mit drei Gegendemonstrationen wollte die Stadt friedlich Farbe bekennen. Doch durch gewaltbereite Autonome kam alles anders: Eine Rekonstruktion der Ereignisse Der Widerstand gegen die Demonstration des Rechtsradikalen Christian Worch ist zersplittert. Drei Gegenaktionen sind angemeldet. Kurz vor elf, bei der ersten Gegendemo, gibt es zwischen den linken Organisatoren und der Polizei Diskussionen um Absperrungen. Die geplante Route der Worch-Demo läuft keine fünfzehn Meter neben der Kundgebung vorbei. „Eine Sicherheitsmaßnahme“, begründet die Polizei den Aufbau, die Linken sind verärgert und sprechen von einem „Polizeikessel“. Zur gleichen Zeit sieht man am Alten Markt hier und da schwarzvermummte Gestalten, die scheinbar ziellos umherlaufen. Immer mehr Menschen, von jung bis alt, kommen aus der Innenstadt und strömen auf die Kreuzung am Alten Markt. Die Kundgebung am Glockenspiel verlief kurz, quasi ein Abbruch. Es ist 12.15 Uhr, eigentlich sollte der Zug der Worch-Anhänger seit einer Viertelstunde auf dem Weg sein. Am Platz der Einheit finden sich nur spärlich Teilnehmer zur zweiten offiziellen Gegendemonstration ein. Die vom städtischen Aktionsbündnis „Potsdam bekennt Farbe“ organisierte Kundgebung mit anschließender Demonstration soll dem Wegverlauf der Nazis folgen. Oberbürgermeister Jann Jakobs trifft ein. Die Potsdamer müssten Zeichen setzen, dass Neonazis hier keinen Platz haben, sagt er. Aktionen wie ziviler Ungehorsam würden jedoch ein großes Risiko beinhalten, „das ich ungern eingehe“. Ministerpräsident Matthias Platzeck (SPD), der neue Bildungsminister Holger Rupprecht und PDS-Chef Lothar Bisky sind vor Ort, auch CDU-Stadtfraktionsmitglied Eberhard Kapuste ist dabei. Auf der Langen Brücke sammeln sich etwa tausend Nazi-Protestierer und versperren die Straße. Der zivile Ungehorsam formiert sich, die Polizei ebenfalls. Beamte in Schutzanzügen sind vor Ort, zwei Wasserwerfer fahren heran. Es ist 12.42 Uhr. Die erste Bierflasche fliegt. Gleichzeitig holen Schwarzvermummte Bauzäune vom Ufer der Alten Fahrt und verbarrikadieren die Straße. Die Polizei bringt Schutzschilder in Stellung, Steine und Flaschen sirren durch die Luft, ein Polizist wird getroffen. Vernünftige Gegendemonstranten verlassen fluchtartig die Szenerie, die Wasserwerfer schieben sich nach vorne. Sekunden später schießen die ersten Wasserstrahlen heraus. Die Randalierer flüchten mit Bierflaschen in der Hand in die Breite Straße. * * * „Geben Sie mir einen Zeitstrahl!“ Im Gespräch mit der Polizei fordert Christian Worch Fakten. Etwas verklausuliert will der Hamburger Rechtsextremist wissen, wann der Demonstrationszug von knapp 300 nach Potsdam gereisten Rechtsradikalen endlich auf die geänderte Strecke gehen kann. Die Ausschreitungen an der Langen Brücke haben nicht nur den pünktlichen Beginn um 12 Uhr, sondern auch die geplante Route durch die Innenstadt verhindert. * * * Die Breite Straße brennt. Beißender Qualm in Höhe der Spielbank Jokers Garden, angezündete Mülltonnen, umgekippte Palmenkübel, demolierte Baugerüste und Absperrungen. Unweit vom ersten Brand ein nächstes loderndes Feuer, die Scheiben eines Matratzengeschäfts gehen zu Bruch. Poliizeifahrzeuge und Krankenwagen bahnen sich einen Weg durch das Chaos. Einzelne Chaoten werden festgenommen. Am Rechenzentrum warten – etwas hilflos schauend – die Akteure der Protestaktion „Hupkonzert“. Jugendamtsleiter Norbert Schweers steht unter dem Eindruck der Ereignisse. „Schade, dass so etwas passiert.“ Wütende Anwohner beschimpfen Polizisten in der Charlottenstraße. „Wir haben um unsere Autos gezittert. Ihr kommt immer zu spät“, ruft einer den Beamten hinterher. Es ist viertel zwei. Mittlerweile hat sich der marodierende Mob verteilt. Die Polizei holt weitere Einsatzkräfte. Die Ebräer- und Wilhelm-Staab-Straße sind verwüstet. Doch langsam aber sicher gewinnt die Polizei die Oberhand. Der Demonstrationszug der Stadt zieht in Richtung Nauener Tor, um die Sicherheit der friedlichen Demonstranten nicht zu gefährden. Inzwischen scheint klar, dass die Rechten nicht mehr durch die Innenstadt ziehen werden. Einige Teilnehmer fühlen sich „nutzlos“, ob der gescheiterten Proteste. Kurz vor 14 Uhr, ein Polizeihubschrauber kreist über der Stadt, die Lage beruhigt sich. Auswärtige Gegendemonstranten werden unter den Augen der Polizei zum Bahnhof geführt. Die Chaoten haben derweil Hinweise bekommen, dass die Rechten durch Babelsberg ziehen wollen. Doch die Polizei sperrt komplett ab. Potsdams Innenstadt ist lahm gelegt, zeitweise sind beide Havelübergänge dicht. * * * Mit über zweieinhalb Stunden Verspätung setzen sich die Rechten Richtung Babelsberg in Bewegung. Vorbei an der kleinen, aber wirkungsvollen Gegendemonstration der Fraktion „Die Andere“. Mit Springerstiefeln auf den Köpfen und Plakaten mit der Aufschrift „Ich bin stolz ein Stolzer zu sein“ und „Kauft deutsche Bananen“ haben sie seit über zwei Stunden mit Ironie die Rechten vorgeführt. Die reagierten immer gereizter darauf, dass sie nicht ernst genommen sondern öffentlich veralbert werden. Über die Babelsberger Straße zur Liststraße marschierend, skandieren die Rechten ihre Parolen wie „Ausländer rein. Wir sagen nein“ oder „Wer Deutschland nicht liebt, soll Deutschland verlassen“. Gelegentlich stehen Gegendemonstranten am Straßenrand werden sofort gefilmt und fotografiert. Mit dabei auch Potsdamer Nazis wie die einschlägig bekannte 19-jährige Melanie W. In Alt Nowawes, Ecke Garnstraße stoppt der Zug. Ein beherzter Bürger hat sich mit seinem Fahrrad auf die Straße gestellt, will den Einmarsch der Nazis verhindern. Nur Minuten und die Polizei hat die Situation geklärt. Eine Frau mittleren Alters schreit ihre hilflose Wut gegen den rechten Aufmarsch heraus. In der Karl-Liebknecht-Straße dann, im strömenden Regen, werden die Redebeiträge gehalten. Ob Gordon Reinholz vom Märkischen Heimatschutz, Alexander Hohensee aus Hamburg oder Christian Worch selbst, hier finden sie klare Worte. Der „Terror von Links“ wird gescholten, antisemitisch gehetzt, Rasse und Blut beschworen und indirekt Hitler als „der größte Mann, den die Geschichte hervorgebracht hat“ gepriesen. Die Herren reden sich in Rage, ihre Mitdemonstranten applaudieren, Gegendemonstranten machen ihrem Unmut Luft. Der Rückweg verläuft nach bekanntem Muster, nur werden die Parolen seltener. Das letzte Stück zum Hauptbahnhof mutiert die Demonstration fast zum Schweigemarsch. Dort angekommen, wird ein Großteil der Rechten in das Bahnhofsgebäude eskortiert. Zahlreiche Gegendemonstranten bereiten ihnen lautstark den entsprechenden Abschied.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false