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Brandenburg: „Die politischen Akteure müssen zurückstecken“

Professor Martin Sabrow, Direktor des Zentrums für Zeithistorische Forschung Potsdam, über die Chancen auf eine überparteiliche Aufarbeitung der Nachwende-Politik, den Nutzen einer Enquete-Kommission und Erfolge und Versäumnisse in Brandenburg

Herr Professor Sabrow, die Opposition im brandenburgischen Landtag will eine Enquete-Kommission aus Politikern und Wissenschaftlern einrichten, um zu untersuchen, wie nach der Wende etwa ehemalige Mitarbeiter des DDR-Geheimdienstes in den Landesdienst kamen. Was kann eine solche Kommission leisten?

Wenn der Auftrag genügend spezifiziert werden kann, sehr viel: Sie kann zur Aufhellung heute zweifelhafter Abläufe nach der friedlichen Revolution und in der Frühphase des Landes Brandenburg beitragen, zu den Maßstäben und Versäumnissen der Stasi-Überprüfung, zum besseren Verständnis der ja nicht auf das MfS beschränkten Machtstrukturen im SED-Staat und zur Angemessenheit des Umgangs mit den Opfern der SED-Diktatur, zu einem differenzierten Urteil über die Schwierigkeiten der Diktaturfolgenbewältigung. Viel hängt dabei davon ab, welche Akten zur Verfügung stehen, welchen Anspruch die Enquete-Kommission auf Zuarbeit durch die Landesministerien erhält, welches Auskunftsrecht sie gegenüber Behörden bekommt. Die Chance der Enquete-Kommission liegt in der Rolle unabhängiger Experten. Gerade aufgrund ihrer Besetzung auch mit Wissenschaftlern und ihres überparteilichen Gründungskonsenses sind Enquete-Kommissionen gut geeignet, einen gründlichen und ausgewogenen Blick auf politische Vorgänge zu werfen und eine nachhaltige fachliche und öffentliche Diskussion zu stimulieren. Der von der SPD vorgeschlagene parlamentarische Untersuchungsausschuss würde im Gegenteil eine neue Politisierung der Aufarbeitung bewirken, er wäre ein Schritt zurück in die Vergangenheit des seinerzeitigen Stolpe-Untersuchungsausschusses.

Im Panzerschrank des Landtagspräsidenten lagern die ersten Bescheide der Stasi-Unterlagenbehörde aus dem Jahr 1991 zur ersten und bislang einzigen Stasi-Überprüfung im Landtag. Die Behörde schickte damals 17 Akten, die beiden sogenannten kirchlichen Vertrauenspersonen sprachen aber nur von zwölf Fällen. Der Landtagspräsident hält die Unterlagen von damals noch komplett unter Verschluss. Müsste eine Enquete-Kommission nicht auch in diese Unterlagen schauen können?

Ja, das wäre sinnvoll. Ebenso – soweit rechtlich möglich – aber auch der Blick etwa in Personal- oder Überprüfungsunterlagen des Innenministeriums oder der Kommission, die über die Übernahme von hauptamtlichen und inoffiziellen Mitarbeitern des MfS entschieden hatte. Wir müssen nachvollziehen können, auf welcher Grundlage damals wie entschieden worden ist, und was die im letzten Jahr durch die Presse gegangene Zahl von knapp 3000 in den öffentlichen Dienst Brandenburgs übernommenen Stasi-Belasteten tatsächlich aussagt. Sie wirft ja ganz undifferenziert hauptamtliche MfS-Mitarbeiter mit Inoffiziellen Mitarbeitern in einen Topf. Hat sie trotzdem zu Recht im letzten Jahr Empörung ausgelöst oder war sie schlicht das Ergebnis einer angemessenen Einzelfallprüfung?

Was wären die wichtigsten Voraussetzungen für die Arbeit einer solchen Enquete-Kommission?

Neben dem klar definierten Auftrag: Die ausgewogene Besetzung des Gremiums, eine umfängliche Akteneinsicht und eine überparteiliche Arbeitsperspektive. Die Reaktionen – sowohl die im politischen Raum als auch allgemein im Land – haben ja auch glücklicherweise gezeigt, dass es in Brandenburg die Chance für einen überparteilichen Ansatz gibt. Dieses Gremium muss unabhängig agieren können, es muss von der Bereitschaft getragen werden, vergessene Wahrheiten ans Licht zu holen und neue zu ermitteln.

Die SPD versucht, das Thema Manfred Stolpe aus der Enquete-Kommission heraus zu halten – nach dem Motto: Wir können über alles reden, aber nicht über Manfred Stolpe und dessen Stasi-Verstrickungen. So hatte in dieser Woche erst der SPD-Fraktionschef Woidke einen parlamentarischen, also einen rein politischen Untersuchungsausschuss statt einer Enquete-Kommission vorgeschlagen. In dem Ausschuss hätten SPD und Linke zusammen mehrheitlich das Sagen gehabt. Aber auch die CDU ist nicht frei von Rachegedanken gegenüber der SPD. Glauben Sie angesichts dessen wirklich, dass es eine Chance für eine überparteiliche Untersuchung geben kann?

Ja, die Chance sehe ich. Zugleich gilt: Die politischen Rahmenbedingungen mit den Startschwierigkeiten von Rot-Rot angesichts der Stasi-Enthüllungen sowie der Wandel der CDU von der Regierungspartei zur Oppositionspartei dürfen die Arbeit der Kommission nicht hinderlich beeinflussen. Aber beides, denke ich, wird sich relativieren – schon weil neben der SPD über zehn Jahre hinweg in Brandenburg auch die CDU politische Verantwortung getragen hat. Auch sie hat mitzuverantworten, dass in dieser Zeit kein Landes-Stasi-Beauftragter eingesetzt worden ist. Die Regierungsparteien offenbaren notgedrungen gegenwärtig ihre massiven politischen Vergangenheitslasten. Aber auch die CDU hat mit einem Wirtschaftsminister mitregiert, der sich vorhalten lassen muss, die Mauer noch im Sommer 1989 als politischen Schutzwall gelobt zu haben. Von daher werden alle politischen Akteure etwas zurückstecken müssen. Insgesamt bietet sich so eine reale Chance für das, worum es gehen muss: ein exemplarisches und über Brandenburg hinausweisendes Stück Aufarbeitung der Aufarbeitung nach 1989.

Auch beim Thema Manfred Stolpe und dessen Verstrickung mit dem MfS?

Die Auseinandersetzung um und mit Stolpe ist selbstverständlich ein Teil des Fragenkatalogs, dem sich eine solche Enquete-Kommission widmen soll und dem sie nicht ausweichen darf. Parteipolitische Verbotsschilder werden hier keine Glaubwürdigkeit schaffen. Die Kommission soll ja gerade keine Neuauflage des Stolpe-Untersuchungsausschusses aus den 1990er Jahren werden. Aber des ungeachtet müssen Stolpes Rolle in der DDR wie die Bewertung dieser Rolle nach 1989, aber auch die Abwägung von Integrationsgewinn und Aufarbeitungsverlust im Land Brandenburg zurzeit der Regierung Stolpe natürlich Thema einer solchen Enquete-Kommission sein – so, wie eben auch die Frage, inwieweit die geräuschlose Aufnahme der Blockparteien in die CDU und die FDP die Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit in Brandenburg behindert hat.

Glauben Sie, dass bei Stolpe klare Ergebnisse zu erwarten sind?

Das ist ein im Detail nicht mehr schlüssig aufzubereitender Bereich. Aber unabhängig davon zeigen die Ergebnisse eben auch, wie Verantwortungsträger, die in Diktaturen Spielräume zu nutzen und zu erweitern versuchten, dabei selbst zum Teil der Diktatur wurden.

Welche Wirkung könnte die Enquete-Kommission über Brandenburg hinaus haben?

Sie wird Ergebnisse produzieren, die natürlich auch über Brandenburg hinaus von Bedeutung sind. Umgekehrt ist für Brandenburg die Kontextualisierung der eigenen Untersuchungsergebnisse wichtig. Wir müssen wissen, ob die Rede von der „kleinen DDR“ mehr war als der Appell an ein wählerwirksames Wir-Gefühl und ob in Brandenburg im Vergleich zu anderen Bundesländern tatsächlich anders mit Stasi-belasteten Mitarbeitern im öffentlichen Dienst umgegangen wurde oder nicht. Zweifel sind angebracht. Und wenn die Enquete-Kommission Erfolg hat, wird sie eine gesellschaftliche Debatte über Wege und Abwege postdiktatorischer Eliten-Integration nach 1990 in Brandenburg und darüber hinaus anstoßen.

Bisher hat sich die Debatte überwiegend auf hauptamtliche und inoffizielle Mitarbeiter des DDR-Geheimdienstes konzentriert, nicht aber auf die eigentlichen Auftraggeber der Stasi – die SED, deren Spitzenkader teils einen nahtlosen Übergang in die Demokratie hatten. Ein Fehler?

Hier müssen wir die erstrangige moralische Bedeutung der inoffiziellen MfS-Mitarbeit von ihrer politisch nachrangigen Bedeutung gegenüber der eigentlichen SED-Herrschaft unterscheiden. Zwanzig Jahre lang hat sich die öffentliche Aufmerksamkeit auf das MfS konzentriert, und das ist nachvollziehbar: Seinen Nächsten zu verraten, bleibt ein menschlicher Makel über den Wechsel der Systeme hinweg und macht es einfach, Versagen festzustellen und ein klares Urteil zu gewinnen. Umso mehr ist es jetzt die Zeit, dass wir unsere Aufmerksamkeit stärker der SED-Herrschaft selbst und ihren Machtmechanismen zuwenden. Die Diktatur funktionierte in erster Linie über ihre Herrschaftspartei, und diese Partei war eine Massenorganisation und nicht nur eine Funktionärsclique. Weil wir uns so wenig um den Herrschaftsalltag der SED gekümmert haben, wissen wir heute auch so wenig darüber, wie er auf lokaler und regionaler Ebene über 1989 hinauswirkte – durch Seilschaften, durch Netzwerke, durch Elitenkontinuität. Und wir haben wegen der Dominanz des Stasi-Themas keine öffentliche Verständigung über die Maßstäbe der angemessenen Integration und Ausgrenzung von Parteigängern und Parteieliten nach 1989 gewonnen. Welches Parteiamt, welche Parteifunktion soll als fortdauernde politische Belastung gelten, welche nicht? Und trifft dies nur auf die SED zu oder auch auf die Blockparteien? Und wie steht es um die innerparteiliche Dissidenz? Verdienen die sogenannten SED-Reformer als Vorkämpfer der Wende gewürdigt zu werden, oder sind sie zu Recht aus dem öffentlichen Revolutionsgedenken gestrichen, weil sie die SED-Herrschaft nur über die Krise hinweg retten wollten?

Sie sprechen von Eliten-Integration ...

... ich rede bewusst von Integration, nicht von Verzeihen. Denn es kann im politischen Raum lediglich darum gehen, darüber zu befinden, in welchem Maße und mit welchem Recht Herrschafts- und Funktionseliten der sozialistischen Dienstklasse nach 1989 integriert worden sind und wie dieser Prozess im Weiteren gestaltet werden soll. Ich spreche nicht von Versöhnung ...

... wie Regierungschef Platzeck in seinem Spiegel-Aufsatz. Darin hatte er – ohne zu schreiben, wer sich mit wem worüber versöhnen soll – eine Versöhnung angemahnt.

weil der Ruf nach Versöhnung mir in diesem Zusammenhang anmaßend klingt. Versöhnung ist keine politische, sondern eine moralische Veranstaltung, sie kann nur zwischen Menschen stattfinden, die über ihre frühere Gegnerschaft hinweg zueinander finden, weil sie sich Verletzungen verzeihen. Politik muss sich sehr viel nüchterner auf die Schaffung von Bedingungen des sozialen und menschlichen Ausgleichs beschränken. Und sie muss sich dabei – oder im Nachhinein – von einer Enquete-Kommission fragen lassen, was sie versäumt hat: Hat sie beispielsweise in der Bewältigung der Diktaturfolgen zu viel Kontinuität zugelassen, und hat sie darüber die Opfer der Diktatur vernachlässigt, die sich abermals marginalisiert fühlten und in ihrem Bemühen um Aufarbeitung und Genugtuung alleingelassen empfanden?

Brandenburg gilt als Synonym dafür, wie DDR-Geschichte verklärt oder zumindest nicht genügend aufgearbeitet worden ist.

Vielleicht ist dieses Synonym auch nur ein billiges Klischee? Über den handgreiflichen und endlich öffentlich diskutierten Defiziten sollte nicht vergessen werden, dass auch und gerade in Brandenburg viel getan worden ist für die Aufarbeitung der DDR-Geschichte und darüber hinaus für einen angemessenen Umgang mit der Last der beiden Diktatursysteme des 20. Jahrhunderts in Deutschland.

Etwa?

Die Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten hat unter Günter Morsch mit großem Engagement und in langen Auseinandersetzungen die KZ-Gedenkstätten Sachsenhausen und Ravensbrück zu herausragenden Ausdrucksformen unserer heutigen Erinnerungssprache entwickelt und dabei auch die Problematik der sogenannten Orte mit doppelter Vergangenheit in sensibler und allgemein anerkannter Weise gelöst. Unter der langjährigen Wissenschafts- und Kulturministerin Johanna Wanka wurde die Schaffung von Erinnerungsorten der kommunistischen Repression energisch vorangetrieben und eine umfassende Gedenkstättenkonzeption für das Land Brandenburg erarbeitet, um die zeitgeschichtlichen Orte Brandenburgs zu bewahren und zum Sprechen zu bringen. Gerade eben erst hat die Eröffnung des Ausstellungsmoduls „Vom Haus des Terrors zum Haus der Demokratie“ im ehemaligen MfS-Gefängnis in der Potsdamer Lindenstraße 54 dem erfolgreichen Widerstand gegen die SED-Herrschaft einen Ort und ein Gesicht gegeben. Mit großem finanziellem Engagement von Bund und Land entsteht endlich auch eine Dauerausstellung in der Potsdamer Leistikowstraße, einem der schlimmsten Schauplätze des Leidens in der stalinistischen DDR.

In der Enquete-Kommission sollen auch Zeithistoriker arbeiten. Wie weit ist die zeithistorische Forschung bei der Erforschung der Transformationsprozesse während und nach der Wende eigentlich schon?

Die zeithistorische Forschung hat damit erst in den vergangenen zehn Jahren begonnen. Wir haben es, das ist ein Problem, einerseits mit riesigen Datenmengen zu tun, die aufgearbeitet werden müssen. Wir kämpfen zugleich mit der fortdauernden Sperrung vieler Quellen, die noch für Jahrzehnte aus politischen, archivrechtlichen und datenschutzrechtlichen Gründung unzugänglich bleiben werden. Gesperrte und vernichtete Akten – eben nicht nur der DDR – machen das Dunkel oft undurchdringlich, so etwa beim immer noch ungeklärten Komplex der Bestechungsvorwürfe im Zusammenhang mit dem französischen Konzern Elf-Aquitaine und der Übernahme des DDR-Mineralölkonzerns Minol sowie dem Raffinerieneubau in Leuna. Aber der Fächer dubioser Vorgänge, die sich der juristischen wie der zeithistorischen Aufklärung weitgehend entziehen, reicht bis hinunter in die Kommunen – denken Sie nur an die nie befriedigend erhellten Vorgänge in Strausberg um den Vorwurf von Immobilien-Schiebereien in großem Stil.

Brandenburgs damaliger Innenminister Jörg Schönbohm sagte dem Osten und speziell Brandenburg im vorigen Jahr in einem PNN-Interview eine Art ostdeutsches 68 voraus: Die nachgewachsene Generation werde fragen, warum so und nicht anders mit dem DDR-Erbe umgegangen worden ist. Hatte er recht?

So weit würde ich nicht gehen. Es wäre ja auch denkbar, dass eine spätere Generation einmal genug hat von der Aufarbeitungskultur unserer Zeit, die uns gerade jetzt mit dem zwanzigjährigen Jubiläum von friedlicher Revolution und Wiedervereinigung in Atem hält und nun sogar die Aufarbeitung der Aufarbeitung ins Visier nimmt. Trotzdem: Wir sind, so hoffe ich, 20 Jahre nach der wiedergewonnenen Einheit in Freiheit in einer Phase des Rückblicks angelangt, in der es nicht mehr um Vergangenheitsüberwindung durch Reinigung und Diktatur-Delegitimierung geht, sondern auch um ein gerechtes Urteil über Erfolge und Defizite der Transition von der Diktatur zur Demokratie. Und dafür kann eine brandenburgische Enquete-Kommission ein gutes Werkzeug sein.

Sie selbst haben Erfahrungen mit Enquete-Kommissionen und leiten noch dazu in Potsdam das Zentrum für Zeithistorische Forschung. Da wäre doch Ihre Mitarbeit naheliegend. Sind sie gefragt worden?

Meine eigene Person möchte ich hier nicht in den Vordergrund stellen. Aber das ZZF als eine in Potsdam beheimatete Einrichtung der zeitgeschichtlichen Grundlagenforschung wird sich, wenn die skizzierten Rahmenbedingungen gegeben sind, einem Wunsch des Brandenburger Landtags auf Mitarbeit sicherlich nicht verschließen.

Das Gespräch führte Peter Tiede

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