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Der Deutsche Bundestag: künftig verlässlich mit 598 Sitzen.

© dpa/Christoph Soeder

Wahlrechtsreform geht in die heiße Phase: Welche Rolle spielen die Wahlkreise noch?

Die Ampel will eine reine Verhältniswahl. Kritiker sagen, dies erfülle der Reformvorschlag nicht – die Mehrheitswahl bleibe von Bedeutung. In Karlsruhe kann das entscheidend sein.

Die Wahlrechtsreform ist in ihrer „heißen Phase“ angelangt. Was auch bedeutet, dass die „stille Phase“ begonnen hat. Denn nach der ersten Lesung im Bundestag Ende Januar und der üblichen Anhörung der Experten am vergangenen Montag ist nun der Innenausschuss am Zug. Parallel dazu gibt es offenbar Gespräche der Fraktionsführungen. Die Beratungen in beiden Runden verlaufen eher diskret.

Die entscheidenden Fragen der nächsten Wochen lauten: Zieht die Ampel-Koalition ihr Modell durch und verzichtet auf die Zustimmung der Unionsfraktion? Oder gibt es Möglichkeiten der Annäherung, um so eine möglichst breite Mehrheit für die Reform zusammenzubekommen? Gelingt das nicht, droht eine Klage der Unionsfraktion in Karlsruhe. Das Wahlgesetz kann mit einfacher Mehrheit geändert werden – SPD, Grüne und FDP müssen auf die Union keine Rücksicht nehmen.

Die Ampel hat beschlossen, im bestehenden System der mit der Personenwahl verbundenen Verhältniswahl zu bleiben, aber Letztere gegenüber der Ersteren zu stärken. Das wichtigste Ergebnis: Überhang- und Ausgleichsmandate werden abgeschafft, weil damit der Bundestag unkalkulierbar über seine gesetzliche Größe von 598 Sitzen hinauswachsen kann.

Das Problem der Überhänge

Überhangmandate entstehen, wenn eine Partei über die Erststimmen mehr Wahlkreise gewinnt, als ihr nach dem Zweitstimmenergebnis Sitze im Bundestag zustehen. Diese zusätzlichen Mandate darf die Partei behalten. Die anderen Parteien erhalten dafür Ausgleichsmandate. 

SPD, Grüne und FDP wollen nun, dass Sitze an Wahlkreissieger mit vergleichsweise geringen Erststimmenanteilen so lange nicht zugeteilt werden, bis der Parteienproporz wieder hergestellt ist. Bislang lief diese Methode unter dem Namen „Kappungsmodell“. Aber kann man Direktmandate einfach so nicht zuteilen?

Nach dem Gesetzentwurf der Ampel reicht es nicht mehr, die meisten Stimmen im Wahlkreis zu haben, um einen Sitz im Bundestag sicher zu haben. Es kommt nun als zweite Bedingung hinzu, dass die jeweilige Partei auch genügend „Hauptstimmen“ hat – so sollen künftig die Zweitstimmen heißen, um damit klarzustellen, dass sie den Vorrang haben. Die bisherige Erststimme soll Wahlkreisstimme genannt werden. 

Hauptstimmendeckung und verbundene Mehrheitsregel

Aber geht das – mit einer sogenannten „verbundenen Mehrheitsregel“ einfach mal so per Gesetz zu definieren, was unter „Mehrheit“ zu verstehen ist? Dass also die meisten Stimmen nicht unbedingt reichen, sondern auch eine „Hauptstimmendeckung“ vorhanden sein muss? Und verstehen die Wähler und Wählerinnen solche Feinheiten?

Das ist der springende Punkt beim Reformvorschlag der Ampel. In der Anhörung des Bundestages hatten die von den Koalitionsfraktionen benannten Experten keine Probleme mit dem Gesetzentwurf. Es würden „in den Wahlkreisen keine Direktmandate nach dem System der relativen Mehrheitswahl vergeben“, urteilte die Düsseldorfer Rechtsprofessorin Sophie Schönberger. Die Wahl im Wahlkreis diene nur noch „dem Zweck, die Personalauswahl für die einer Partei nach Hauptstimmenergebnis zustehenden Mandate zu determinieren“.

Es werden keine Direktmandate nach dem System der relativen Mehrheitswahl vergeben.

Sophie Schönberger, Rechtsprofessorin

Anders sehen das die Sachverständigen, welche die Unionsfraktion geladen hatte. Eine Wahlkreiswahl abzuhalten, bei der niemand ein Mandat gewinne, „führt die Volkswahl ad absurdum und verträgt sich nicht mit dem Demokratieprinzip“, lautet die Einschätzung von Philipp Austermann von der Verwaltungshochschule des Bundes in Brühl.

Mehrheitsregel „nicht nach Belieben“ definieren

Ähnlich sieht es die Würzburger Verfassungsrechtlerin Stefanie Schmahl. Die Nichtzuteilung von Mandaten trotz erzielter Mehrheit der Stimmen im Wahlkreis sei „mit den Vorgaben des Grundgesetzes nur schwerlich in Einklang zu bringen“. Die Mehrheitsregel sei „unmittelbar im Demokratieprinzip des Artikels 20 verankert, der Gesetzgeber könne daher „nicht nach Belieben definieren, unter welchen Voraussetzungen ein Wahlkreis gewonnen wird“.

Findet nach dem Ampel-Modell wirklich eine reine Verhältniswahl statt? Der Heidelberger Verfassungsjurist Bernd Grzeszick sieht das nicht so. Er ist der Auffassung, dass nach dem Gesetzentwurf weiterhin Mehrheitswahl stattfinde. Und bei der ist eines klar: Wer im Wahlkreis vorne liegt, hat ein Mandat.

Die Wahl im Wahlkreis hat den Charakter der Mehrheitswahl nicht eingebüßt.

Bernd Grzeszick, Verfassungsjurist

Grzeszick argumentiert, dass es laut Gesetzentwurf einen Vorrang von Wahlkreissiegern gebe bei der Besetzung der nach Hauptstimmen errungenen Sitze der Parteien (so sie überhaupt in Wahlkreisen vorne liegen, was vor allem bei CDU, CSU und SPD der Fall ist, weniger bei Grünen, AfD und Linken und gar nicht bei der FDP).

„Relative Ungleichbehandlung“

Erst wenn ein Überhang eintrete, also die Zahl der Wahlkreissieger höher ist als der Sitzanspruch, werden Direktmandate nicht zugeteilt, und zwar an jene nicht, die im innerparteilichen Vergleich mit den schlechteren Prozentergebnissen im Wahlkreis abgeschnitten haben. Darin sieht Grzeszick eine „relative Ungleichbehandlung“ der Direktbewerber einer Partei mit Überhang.

Zudem verweist der Jurist darauf, dass die Ampel weiterhin eine „Grundmandatsklausel“ vorsehe – also die bisher schon geltende Regelung, dass eine Partei, welche an der Fünfprozenthürde scheitert, dennoch im Bundestag ist, wenn sie mindestens drei Wahlkreise gewinnt. 2021 nutzte diese Klausel der Linkspartei. Auch in diesem Fall hat nach Grzeszicks Interpretation die relative Mehrheitswahl weiterhin Bestand.

Einzelbewerber als kritischer Punkt

Dass der Gesetzentwurf der Regierungsfraktionen trotz des Postulats, man veranstalte eine reine Verhältniswahl, weiterhin unabhängige Einzelbewerber zulässt, ist für Grzeszick ebenfalls ein kritischer Punkt. Denn sollte eine solche Einzelbewerbung erfolgreich sein, also mit einem Sieg in relativer Mehrheitswahl enden, dann wäre der Weg in den Bundestag direkt frei.

Damit werde ebenfalls die Gleichheit der Wahl beeinträchtigt, denn Unabhängige hätten damit eine Direktmandatsgarantie, Parteibewerber hingegen nicht. Grzeszicks Fazit: Die Wahl im Wahlkreis habe den Charakter der Mehrheitswahl nicht eingebüßt, sie habe weiterhin Bestand.

Darauf könnte die Union nun ihre Klage in Karlsruhe aufbauen. Die Aussichten? Sie sind ungewiss. Denn offenkundig verfassungswidrig ist der Gesetzentwurf nicht. Es ist daher gut möglich, dass CDU und CSU versuchen werden, noch Änderungen auf der Basis eines Papiers durchzusetzen, das sie Ende Januar vorgelegt haben. Da dieser Vorschlag aber nicht direkt an den Ampel-Entwurf anknüpft, sondern an das bisher geltende Recht, dürfte es schwierig werden, einen Konsens zu finden. Aber auch die Ampel-Fraktionen könnten noch ins Grübeln kommen: Immerhin sind die Zweifel und Bedenken, die in den kritischen Gutachten auftauchen, nicht von der Hand zu weisen.

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