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Türkei: Tausende geben Dink letztes Geleit

Eine Menschenmenge, wie sie Istanbul seit langem nicht gesehen hat. Alte, Junge, Moslems, Christen, Männer, Frauen: Mehr als hunderttausend Menschen waren in Istanbul zur Stelle, um Hrant Dink die letzte Ehre zu erweisen.

Istanbul - Schon am frühen Morgen hatten sich die Ersten in strahlendem Sonnenschein vor dem Büro von Dinks Zeitung "Agos" versammelt, wo der Journalist letzte Woche erschossen worden war. Und sie blieben bei ihm, bis sein Sarg am Nachmittag auf einem armenischen Friedhof in der Stadt der Erde übergeben wurde. Dink, das machten die Menschenmengen bei seiner Beisetzung klar, war weit mehr als ein armenisch-türkischer Journalist und Chef einer kleinen Minderheiten-Zeitung.

"Im Tod hat er erreicht, was er in seinem Leben nicht vermochte: Einheit", sagte die 16-jährige türkische Armenierin, Melisa Sivri. Damit bezog sie sich nicht nur auf die große Zahl der Menschen beim Trauermarsch, sondern auch darauf, dass sich die Trauergäste mit Plakaten und Schildern solidarisch erklärten: "Wir alle sind Hrant", stand da, und: "Wir alle sind Armenier." In einem Land, das sich im Umgang mit seinen Minderheiten so schwer tut wie die Türkei, war das bemerkenswert. "Immerhin wird das Wort 'Armenier' bei uns wie ein Schimpfwort benutzt", sagte der armenisch-türkische Journalist Raffi Hermonn. Wenn sich nun Zehntausende als Armenier bezeichneten, sei das "ein großer Fortschritt".

Dink war ein Feindbild

Immer wieder kamen Teilnehmer am Trauermarsch und auch die Redner an diesem Tag darauf zu sprechen, dass Dink ein Türke war, der wegen seiner umstrittenen Ansichten von einem anderen Türken erschossen wurde. Der armenische Patriarch Mutafyan sprach in seiner Trauerrede offen die Diskriminierung seiner Volksgruppe in der Türkei an: "Ich hoffe, dass man aufhört, uns als Feinde zu betrachten", sagte der Patriarch.

Für den 16-jährigen Arbeitslosen Ogün Samast und seinen Freund Yasin Hayal war Dink genau das: ein Feind. Hayal sagte im Polizeiverhör aus, er habe Samast mit dem Mord an Dink beauftragt und ihm auch die Waffe gegeben. Dink musste sterben, weil er anders als die meisten seiner türkischen Landsleute von einem türkischen Völkermord an den Armeniern im Ersten Weltkrieg sprach. Das genügte, um ihn in den Augen von militanten Nationalisten wie Samast und Hayal zu einem Verräter stempeln. Er bereue nichts, sagte Samast nach seiner Festnahme.

Mörder im Kindesalter

Auch der Mörder ihres Mannes sei einmal ein Kind gewesen, sagte Dinks Witwe Rakel. Nun müsse man fragen, wer aus diesem Kind einen Mörder gemacht habe. Nach ihrer Rede, die sie als "Liebesbrief" an ihren Mann bezeichnete, ließ Rakel Dink zusammen mit ihren Töchtern weiße Tauben in den Himmel steigen. Dink hatte in seinem letzten Beitrag für "Agos" mit Blick auf Anfeindungen und Drohungen aus dem rechtsradikalen Lager geschrieben, er fühle sich verletzlich wie eine Taube.

Auch nach der Beisetzung Dinks wird in der Türkei weiter über die Frage gestritten werden, wie es sein kann, dass ein junger Mann einen ihm völlig unbekannten Landsmann erschießt, nur weil er dessen Meinungen nicht teilte. Dinks Tod hat den Ruf nach einer Abschaffung des Strafrechtsparagraphen 301 noch lauter werden lassen - der Paragraf verbietet die "Beleidigung des Türkentums" und ist das Hauptinstrument von Rechtsnationalisten bei der Bekämpfung unliebsamer Meinungen. Auch Dink war auf Grundlage des 301 verurteilt worden. Beim Trauermarsch waren deshalb Schilder mit der Aufschrift "301 ist der Mörder" zu sehen.

Ob die Regierung in Ankara bereit sein wird, den Paragrafen zu streichen, ist aber nicht sicher. Bald sind Wahlen, und da will Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan die nationalistischen Wähler nicht vergraulen. Erst nach den Trauerfeierlichkeiten für Dink werde über den "301" geredet, sagte Justizminister Cemil Cicek ausweichen. Cicek ließ sich ebenso wenig bei der Beisetzung des Journalisten sehen ließ wie Erdogan. (tso/AFP)

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