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© dpa

Griechenland: Rebellion der Ratlosen

Sie kommen aus gut situierten Familien, haben Bildung – aber keine Zukunft. Seit vier Tagen wütet Griechenlands Jugend. Und ein Alter sagt: "Jetzt geht die Hölle los."

Es sind nur wenige Menschen, die an diesem Dienstagmorgen durch das Athener Zentrum eilen, der Himmel über der Stadt ist strahlend blau, die Stimmung düster, ausgebrannte Autowracks säumen die Straßen, Glassplitter und Steine bedecken das Pflaster, einige Passanten halten sich Taschentücher vor Mund und Nase, das Tränengas hat sich noch nicht verzogen. Später, vorm Parlamentsgebäude, ein Handgemenge, hunderte Jugendliche gegen die Polizei, Steine fliegen. Und wieder Tränengas.

Es geht weiter, den vierten Tag nun, es ist auch der Tag der Beisetzung jenes 15-Jährigen, dessen Tod all das ausgelöst hat, was sich derzeit in Athen und anderen griechischen Städten abspielt.

„Niemand hat das Recht, diesen tragischen Vorfall als Alibi für Aktionen der rohen Gewalt zu missbrauchen“, sagt der Ministerpräsident.

„Auf den Straßen trauert heute eine ganze Generation“, sagt der Oppositionsführer.

Hier und da steigt Qualm aus den vom Feuer der vergangenen Nacht zerstörten Läden. Vom Ruß geschwärztes Löschwasser fließt in Rinnsalen aus den Ruinen. Aufgesprüht auf die Fassade einer ausgebrannten Bankfiliale: „Athen brennt, 2008“. An der Skoufa-Straße im noblen Wohn- und Einkaufsviertel Kolonaki steht eine Frau schluchzend vor ihrem zerstörten Schuhgeschäft. „Alles vorbei, alles vorbei …“ Gebrannt hat es hier nicht, aber die Inneneinrichtung ist verwüstet, Auslage und Regale wurden geplündert. „Ich habe doch erst vor vier Wochen eröffnet“, sagt die Frau unter Tränen.

Zwei Nächte lang hatten Tausende im Athener Stadtzentrum gewütet, vor allem in der Umgebung der Polytechnischen Hochschule und am Omoniaplatz. Dann stürmten sie am Montagabend, bewaffnet mit Schlagwerkzeugen, Steinen und Brandsätzen, das Kolonaki-Viertel, wo auch viele Politiker wohnen. „Sie kamen plötzlich aus allen Seitenstraßen“, sagt einer der Kellner des Restaurants Kolonaki Tops. Überall splitterten die Schaufensterscheiben. Die Gäste, die an diesem warmen Dezemberabend in den Straßencafés saßen, ergriffen die Flucht. „Die Polizei kam erst, als alles vorbei war“, sagt ein Mann, der den Zerstörungszug von seinem Balkon beobachtet hatte.

Man habe am Montag vor einem großen Dilemma gestanden, heißt es in Athener Regierungskreisen: entweder mit einem massiven Polizeieinsatz Todesopfer und damit auch eine weitere Eskalation der Gewalt zu riskieren, oder den Verlust von Eigentum in Kauf zu nehmen. Man habe sich für Letzteres entschieden. Doch mit einem solchen Ausmaß der Gewalt dürfte auch die Regierung nicht gerechnet haben. Die Nacht zum Dienstag brachte die bisher schlimmsten Verwüstungen. Das Stadtzentrum war für mehrere Stunden in der Hand von etwa 4000 vermummten Jugendlichen. Sie griffen mit ihren Eisenstangen und Brandflaschen nicht nur Geschäfte und Bankfilialen an, sondern attackierten erstmals auch Ministerien und verwüsteten die Eingangshallen mehrerer Luxushotels. Die Feuerwehr rückte binnen weniger Stunden zu rund 200 Bränden aus, konnte aber oft erst eingreifen, nachdem die Brandschatzer abgezogen waren.

„Ich habe immer wieder versucht, die Feuerwehr anzurufen“, sagt der Besitzer eines ausgebrannten Schreibwarenladens, „aber niemand hat abgenommen.“ Während er mit einer Holzlatte in den verkohlten Trümmern herumstochert, rumpelt draußen ein als Dampflok drapierter Traktor mit drei Wägelchen vorbei. In ihnen sitzen asiatische Touristen. Sie filmen mit ihren kleinen Videokameras und Handys eifrig die verwüsteten Läden und die rußgeschwärzten Fassaden.

Die Touristen könnten bald ausbleiben. Das deutsche Auswärtige Amt hat bereits eine Reisewarnung für Griechenland herausgegeben. Denn nicht nur in Athen gibt es Unruhen. Piräus, Patras, Larissa, Trikala, Korinth, Chania, Rhodos – die Liste der Städte, in denen jugendliche Randalierer alles zerstören, was ihnen in den Weg kommt, wird täglich länger.

Griechenland sei wie ein Topf kochenden Wassers, sagt Nikos Dimou. „Man wartet nur darauf, dass es übersprudelt und der Deckel abfliegt.“ Der 74-jährige Philosoph und Schriftsteller saß am Montagabend vor seinem Fernseher, fassungslos zwar, doch unerwartet kam das alles nicht für ihn, sagt er. Dimou ist Schriftsteller, einer der prominentesten Gesellschaftskritiker Griechenlands. „Als ich hörte, dass der Junge erschossen wurde, wusste ich, jetzt geht die Hölle los.“

Ein Toter, der Deckel flog ab. Ein Tod, Symbol für die Frustration und Perspektivlosigkeit einer ganzen Generation junger Griechen, die sich von ihrer Regierung verraten und um ihre Chancen betrogen fühlen. Die glauben, nie Fuß fassen zu können in der griechischen Gesellschaft, die unübersehbar korrupt ist, wo die Jugendarbeitslosigkeit hoch und Vetternwirtschaft alltäglich ist. Die meisten älteren Griechen haben sichere Posten, die Jüngeren oft nur zeitweise Jobs, schlecht bezahlte, es gibt eine Akademikerbewegung mit dem Namen „Generation 700“ – in Anspielung auf das geringe Gehalt, das sie verdienen. Regiert wird das Land seit Jahrzehnten von wenigen Großfamilien.

Besonders der jüngste Skandal der Regierung Karamanlis ist den Demonstranten wohl noch gut im Gedächtnis, sagt Nikos Dimou. Dabei ging es um die Kirche, um ein Kloster der autonomen Mönchsrepublik Athos auf der Halbinsel Chalkidiki, das zusammen mit Regierungspolitikern in betrügerische Grundstücksgeschäfte verstrickt war. „Die Jungen sehen sehr genau, was alles passiert“, sagt Dimou.

Viele der Rebellen dieser Tage kommen aus gut situierten Familien, sind weder arm noch ungebildet. Vielleicht ist es ja so, dass auch sie die ewige Chancenungleichheit leid sind, sie haben sie an ihren Universitäten womöglich gerade zum ersten Mal erfahren. Wer als Student Prüfungen möglichst reibungslos bestehen will – zum Beispiel Prüfungsaufgaben ein paar Tage vor den anderen erfahren –, sollte Mitglied einer Partei sein. Dass Professoren ihren politisch engagierten Schützlingen helfen, kommt in Griechenland immer wieder vor. „Karriere“, das sagt auch Nikos Dimou, „wird in Griechenland nur mit Parteimitgliedschaft gemacht.“

Und der Staat versagt schon in den Schulen. Was dort gelehrt wird, reicht oft nicht, um wichtige Prüfungen zu bestehen. Die meisten Schüler lernen ihren Stoff daher zusätzlich nachmittags in teuren Privatstunden. Es ist auch diese Vermarktung von Bildung, gegen die sich der Zorn der Demonstranten in ganz Griechenland wendet.

Als Katalysator dient eine kleine Gruppe von Anarchisten im Land, entstanden als studentische Reaktion auf die 1967 errichtete Militärdiktatur. Die Universitäten des Landes sind seitdem quasi Symbole der – meist links gerichteten – politischen Rebellion. Besonders die Polytechnische Hochschule von Athen in Exarchia, dem Teil der Stadt, in dem der 15-jährige Alexandros Grigoropoulos am Samstag von einem Polizisten erschossen wurde. Dort verbarrikadierten sich im November 1973 Studenten, um gegen die Diktatur zu protestieren – bis am 17. November Panzer die Eisentore zum Unigelände aufbrachen. Vermutlich starben 40 Menschen. Eine Folge davon ist ein Gesetz, das es der Polizei bis heute nicht erlaubt, die Universitäten des Landes zu betreten. Es sollte Gedanken- und Redefreiheit der griechischen Studenten symbolisieren – und wird doch heute oft auch von den sogenannten autonomen Linken benutzt, die sich in den Universitäten vor den Polizisten verstecken. Bis ein Universitätsdirektor der Polizei den Eintritt gewährt, muss viel passieren.

Am Nachmittag strömen Tausende Menschen zum Friedhof St. Sofia im Athener Stadtteil Paleo Faliron, zu Alexandros Grigoropoulos’ Beisetzung. Viele Kinder, Jugendliche, die meisten halten rote Rosen in den Händen, manche weinen. „Adio, Gregory“ steht auf den Schleifen vieler Kränze. So hieß Grigoropoulos im Freundeskreis.

Wie es zu dem tödlichen Schuss auf ihn kam, ist immer noch strittig. Notwehr, drei Warnschüsse, Querschläger, das ist die Version des Polizisten. Augenzeugen berichten dagegen lediglich von einem lautstarken Wortgefecht zwischen Jugendlichen und den Beamten, die etwa 15 Meter voneinander entfernt gewesen seien, und einem darauf folgenden gezielten Schuss. Inzwischen ermittelt die Staatsanwaltschaft gegen den Polizisten und den ihn begleitenden Kollegen wegen Mordes und Beihilfe zum Mord.

Erkenntnisse über den Hergang verspricht man sich vom Ergebnis einer ballistischen Untersuchung: Die Kriminaltechniker sollen feststellen, ob es sich bei dem tödlichen Geschoss um einen Querschläger handelte oder um einen direkten Treffer. Das Ergebnis sollte am Dienstag feststehen, wurde aber zunächst nicht bekannt.

Während die Polizei auf dem Friedhof von Paleo Faliron ihre Sicherheitsvorkehrungen für das Begräbnis trifft, sucht Regierungschef Kostas Karamanlis den gleich neben der Villa Maximos, seiner Regierungszentrale, gelegenen Amtssitz von Staatspräsident Karolos Papoulias auf, um ihn über die Entwicklung zu unterrichten. „In diesen kritischen Stunden müssen alle Politiker die Chaoten isolieren und verurteilen, das ist unsere Pflicht“, sagt Karamanlis nach dem Treffen. Dann kommt er zu Einzelgesprächen mit den Führern der Oppositionsparteien zusammen, wohl um das weitere Vorgehen zu beraten, um Einigkeit zu erzielen.

Doch das wird schwierig werden. Denn zumindest der sozialistische Oppositionschef Giorgos Papandreou macht keinen Hehl daraus, dass er nun eine Möglichkeit wittert, Karamanlis aus dem Amt zu hebeln: „Diese Regierung ist gefährlich geworden für Griechenland und das griechische Volk“, sagt Papandreou, die Krawalle seien die direkte Folge der Regierungspolitik. Papandreou fordert jetzt vorgezogene Wahlen. In den Meinungsumfragen liegen die Sozialisten inzwischen mehr als fünf Prozentpunkte vor den Konservativen.

Kurz bevor die Sonne über Athen untergeht, tragen acht Mitschüler den weißen Sarg mit Alexandros Grigoropoulos’ Leichnam aus der Friedhofskapelle.

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