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Russian President Vladimir Putin gives a speech during a ceremony formally annexing four regions of Ukraine Russian troops occupy - Lugansk, Donetsk, Kherson and Zaporizhzhia, at the Kremlin in Moscow on September 30, 2022. (Photo by Dmitry ASTAKHOV / SPUTNIK / AFP)

© Dmitry ASTAKHOV / SPUTNIK / AFP

Putins bizarre Rede: „Unsere Werte, das ist die Liebe zum Menschen, Mitgefühl“

Russlands Präsident rechtfertigt die Annexion von vier ukrainischen Regionen. Seine prekäre Lage versucht er mit Attacken auf den Westen zu überspielen.

Von Hans Monath

| Update:

Der Befehlshaber eines völkerrechtswidrigen Krieges preist das Völkerrecht. „Wir gewinnen vier neue Subjekte in der russischen Föderation, weil das der Wille von Millionen von Menschen ist“, sagt Russlands Präsident Wladimir Putin am Freitagnachmittag im Prachtsaal des Kreml, wo Beifall aufbrandet.

Es geht in diesem Moment darum, nach Scheinreferenden, die von der Welt nicht anerkannt werden, die Annexion der Oblaste Luhansk, Donezk, Cherson und Saporischschja im Osten der Ukraine zu verkünden.

Putin beruft sich allen Ernstes auf die in der UN-Charta verbrieften Prinzipien der „Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker“, auch wenn UN-Generalsekretär Antonio Guterres die Scheinreferenden schon als „null und nichtig“ bezeichnet hat. Doch das ist kein Hindernis für Putin. Seine Botschaft lautet, dass die Menschen in diesen Regionen nun „für immer unsere Bürger sind“.

Wenn es einen Wettbewerb gebe, Ursachen und Folgen in diesem Krieg zu verdrehen, Russlands Präsident hätte wohl Chancen, ihn zu gewinnen. Der Mann, der seine Armee vor sieben Monaten im Nachbarland hat einfallen lassen, appelliert an die Überfallenen, Frieden zu ermöglichen.

„Wir rufen das Kiewer Regime auf, den Beschuss und alle Kampfhandlungen sofort einzustellen und an den Verhandlungstisch zurückzukehren“, sagt er. Russland, sei zu Verhandlungen bereit – allerdings nicht über die einverleibten Gebiete.

Dann folgt eine Rede, die einem Grundgedanken folgt: Russland führt einen heroischen Abwehrkampf gegen den von den imperialistischen USA geführten Westen.

Es geht darin um den Selbstbehauptungswillen des russischen Volkes, das nicht in jener „Sklaverei“ enden will, die der kolonialistische Westen für es vorgesehen habe. Und das damit angeblich ein Beispiel für die Welt setzt. In Wirklichkeit gehen auch die Verbündeten China oder Indien zunehmend auf Distanz zu Putins unerbittlichen Kriegskurs.

Es folgt ein Ausflug in die Kolonialgeschichte des Westens. Die reicht eben von der Sklaverei über die Ausbeutung Indiens und Afrikas, dem Opiumkrieg gegen China bis hin zu den Atombombenabwürfen der USA in Japan im Zweiten Weltkrieg.

Auch Deutschland kommt in dieser Aufzählung vor – als Opfer der USA. Köln, Hamburg und Dresden seien durch anglo-amerikanische Luftangriffe in Ruinen gelegt worden, „ohne militärische Notwendigkeit“.

Sehen so die Sieger der Geschichte aus? Wladimir Putin feiert mit den von Moskau ernannten Leitern ukrainischer Regionen deren völkerrechtswidrige Annexion.

© Grigory Sysoyev/Pool Sputnik Kremlin/AP/dpa

Die USA sieht Putin auch als treibende Kraft hinter dem Versuch der EU, unabhängig zu werden von russischer Energie: „Das führt zur Deindustrialisierung Europas“, sagt er voraus, dann wolle die US-Industrie übernehmen. Die USA macht Putin auch verantwortlich für die Zerstörung der Gas-Pipelines in der Ostsee: „Sie zerstören die gesamteuropäische Infrastruktur – es ist doch klar, für wen das von Nutzen ist.“

Sie lügen, was das Zeug hält. Sie lügen wie Goebbels.

Wladimir Putin, russischer Präsident, über den Westen

Glauben die Vertreter der russischen Elite angesichts der prekären Lage Putins Lügen noch? Immer wieder brandet Applaus auf, aber es ist schwer, in den Gesichtern der Regierungsmitglieder, Abgeordneten, Militärs und Geistlichen zu lesen.

Auch wenn der Verantwortliche für gut dokumentierte Kriegsverbrechen sagt: „Unsere Werte, das ist die Liebe zum Menschen, Mitgefühl.“ Und über den Westen: „Sie lügen, was das Zeug hält. Sie lügen wie Goebbels.“

Anlass für Zweifel hätten Putins Zuhörer, denn der Misserfolg seines Krieges wühlt sein Land inzwischen auf. Im Fernsehen werden Vertreter des russischen Militärs beschimpft – die Aggression richtet sich nicht mehr nur nach außen, sondern auch nach innen.

Die vermeintlich schnell zu erledigende „Spezialoperation“ zur Befreiung der Ukraine von „Faschisten“ wollte der Präsident fernhalten vom eigenen Volk – vor allem Vertreter ethnischer Minderheiten wurden deshalb ins Feuer geschickt.

Nun aber zwingt der militärische Misserfolg Putin dazu, die Russen mit der Wahrheit zu konfrontieren: Nach der Teilmobilisierung muss die Gesellschaft der Gewalt in der Ukraine ins Gesicht sehen. Die Zahl der Russen, die vor der Zwangsrekrutierung fliehen, geht in die Hunderttausende. In Städten protestieren Kriegsgegner unübersehbar, auch wenn die Staatsmacht sofort mit Gewalt zurückschlägt.

Russlands Elite hört Putins teils bizarren Argumenten im Kreml zu - und applaudiert.

© Mikhail Metzel / POOL/IMAGO/SNA

Und ausgerechnet am Tag der Rede meldeten sowohl ukrainische wie russische Quellen, die ukrainische Armee habe die strategisch wichtige ostukrainische Stadt Lyman eingekesselt.

Sollte das stimmen, wäre dieser militärische Erfolg ein weiteres Zeichen nicht nur für den Widerstandswillen, sondern auch die Offensivfähigkeit der Ukraine. Lyman ist ein wichtiger Bahnknotenpunkt im Norden der Region Donezk.

Immerhin: Einen weiteren Eskalationsschritt hat der russische Präsident bei seinem Auftritt nicht verkündet. Die Atomwaffen, mit denen er dem Westen vor wenigen Tagen drohte („Das ist kein Bluff“) nennt er nicht explizit, wenn auch jeder sie auch mitdenken muss bei seinem Satz: „Wir werden Russland mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln verteidigen.“

Und zu Russland gehören nach der Lesart Putins nun auch die vier Oblaste im Osten seines selbstständigen Nachbarlandes.

Nach 40 Minuten endet Putin mit den Worten: „Hinter uns steht die Wahrheit, hinter uns steht Russland.“ Als Erster unterzeichnet er die Aufnahmeurkunde für die vier Territorien.

Anschließend unterschreiben die Chefs der prorussischen Separatisten in Luhansk, Donezk, Cherson und Saporischschja, Leonid Passetschnik, Denis Puschilin, Wladimir Saldo und Jewgenij Balizki die Urkunde. Dann stehen sie auf, fassen sich und Putin bei den Händen und rufen laut in den Saal: „Russland!“

Nur noch formale Hürden müssen aus russischer Sicht überwunden werden, bis der historische Akt vollzogen ist: Zustimmen müssen noch das Verfassungsgericht, die zwei Parlamentskammern Duma und Föderationsrat. Es gibt keinerlei Zweifel, dass sie das völkerrechtswidrige Vorhaben absegnen werden.

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