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Politik: Neue Formation

Bin Ladens Tod hat Al Qaida geschwächt, aber nicht besiegt. Im Mittleren Osten und im Norden Afrikas erstarkt das Netzwerk.

Als am 2. Mai 2011 weltweit die Eilmeldungen „Osama bin Laden tot“ über die Bildschirme flackerten, trauten viele ihren Augen nicht. Fast ein Jahrzehnt hatten die USA auf diesen Tag gewartet, hatten sie jenen Mann gejagt, dem der größte Terroranschlag in der Geschichte der USA angelastet wird, der 11. September, als seine Anhänger zwei Flugzeuge in die beiden Türme des World Trade Center steuerten und 3000 Menschen töteten. Beinahe wie einen Sieg des Guten über das Böse feierte Amerika damals das Ende des Al-Qaida-Gründers.

Doch die Tötung hinterließ einen schalen Beigeschmack: Selbst UN-Experten fragten, ob die USA nicht ihre eigenen Ideale verrieten, als sie den unbewaffneten bin Laden und vier weitere Menschen ohne jeden Prozess in einem Haus im pakistanischen Abbottabad exekutierten.

Doch unangenehme Nachfragen wischen die USA weg. US-Präsident Barack Obama versicherte vor einem Jahr: „Wir haben Al Qaida auf den Weg der Niederlage geschickt.“ Der damalige CIA-Chef und heutige US-Verteidigungsminister Leon Panetta legte nach: Die USA seien „in strategischer Reichweite, Al Qaida zu besiegen“. Viele Terrorexperten aber teilen diese Ansicht nicht. Bin Ladens Tod erscheint nicht mehr als ein gefühlter Sieg über Al Qaida zu sein. Für die Organisation war der Tod bin Ladens fraglos ein Schlag. Sein Nachfolger Eiman al Sawahiri, der nun ebenfalls in Pakistans wildem Niemandsland vermutet wird, füllt diese Rolle nicht aus. Ihm fehlt das Charisma. Doch die Ideologie des weltweiten Dschihad habe ebenso wie bin Ladens Philosophie überlebt, meinen Experten. „Es ist Wunschdenken, zu sagen, Al Qaida sei am Rande der Niederlage“, sagt Seth G. Jones von der „Rand Corporation“.

Zwar stimmen die meisten Experten überein, dass Al Qaida geschwächt ist. Die letzte große Terrorattacke, die Al Qaida zugeschrieben wird, war vor sieben Jahren in London. Und auch für die nächste Zeit rechnet man nicht mit einem Anschlag in der Dimension des 11. Septembers. Doch besiegt sei das Terrornetzwerk lange nicht, meint Jones. Im Gegenteil: Al Qaida habe die Präsenz im Mittleren Osten und im Norden Afrikas ausgedehnt, neue Partner gewonnen und in einigen Regionen wie dem Jemen sogar die Kontrolle über Territorium errungen.

„Verschiedene Indikatoren suggerieren, dass Al Qaida stärker wird“, sagt Jones. Al Qaida lebte nie von einer Person, sondern von einer Idee, vom Hass auf den übermächtigen Westen und die „Ungläubigen“. Das Netzwerk hat sich zwar aus Pakistan wegverlagert, dafür aber andernorts neu formiert. Experten glauben, dass die Kerntruppe Al Qaidas in Pakistan und Afghanistan nur noch einige Dutzend Mitglieder umfasst. Das dürfte weniger dem Tod bin Ladens als den Offensiven am Hindukusch und den US-Drohnenangriffen in Pakistan geschuldet sein.

Aber was wird nach dem Abzug des Westens? Viele fürchten, dass Al Qaida dann in der Afpak-Region wieder freie Hand hat. Geheimdienstleute beschreiben die Terrorgruppe als eine Hydra mit tausend Köpfen und Gesichtern. Als der gefährlichste Zweig gilt der Al-Qaida-Ableger im Jemen. Daneben nennen Experten Al Qaida in Algeria und Mali, die verbündete Bewegung Schabab in Somalia, die Miliz Boko Haram in Nigeria sowie die Terrorgruppen Lashkar-e-Toiba und Tehrik-i-Taliban in Pakistan. Diese Gruppen sollen sich gegenseitig unterstützen.

Auch im arabischen Frühling sollen Al-Qaida-nahe Gruppen mitmischen. „Bei aller Bewunderung für die tapferen Demonstranten in den Straßen von Damaskus bis Sanaa hat die wachsende Instabilität doch einen fruchtbaren Boden für Al Qaida geschaffen, ihren Einfluss auf die Region auszuweiten“, meint Jones. „Wir stehen heute einer viel, viel größeren Bedrohung gegenüber. Es ist eine zerstreutere Gefahr, dezentralisiert in einem breiten Netzwerk von Gruppen. Al Qaida inspiriert diese Gruppen, aber kontrolliert sie nicht.“

Wie realistisch aber ist es, alle Terroristen der Welt vernichten zu wollen? Der Princeton-Professor John Ikenberry jedenfalls meint, die USA sollten „diesen Krieg gegen den Terror beenden, weil wir Terrorismus niemals beenden können“.

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