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Politik: Michael Blumenthal im Interview: "Wenn Europa nicht hilft, dann tun wir es allein"

W. Michael Blumenthal (75) musste 1939 als Jude aus Deutschland emigrieren.

W. Michael Blumenthal (75) musste 1939 als Jude aus Deutschland emigrieren. In Amerika machte er eine glänzende Karriere, war Berater unter den Präsidenten Kennedy und Johnson und Finanzminister unter Jimmy Carter. Anhand des Wegs seiner Familie, die seit 300 Jahren in Preußen lebte, schrieb er eine deutsch-jüdische Geschichte unter dem Titel "Die unsichtbare Mauer". 1997 übernahm er die Leitung des Jüdischen Museums Berlin.

Zu den Vorzügen Amerikas gehörte es immer, ein Ort der Sicherheit und Zuflucht zu sein, unverletztbar und unschlagbar. Sie selbst, Herr Blumenthal, haben das als jüdischer Flüchtling erfahren. Ist dieser amerikanische Traum seit dem vergangenen Dienstag unheilbar beschädigt? Fatalerweise richtete sich der Terrorangriff vor allem auf jenes Manhattan, das für viele das Symbol dieser Verheißung war.

Ich glaube, die Antwort ist ein entschiedenes Nein. So schrecklich die Ereignisse sind und so groß der Schock ist, so sehr bin ich davon überzeugt, dass die USA, der nationale Charakter des Landes und die Art von Demokratie, die dort praktiziert wird, davon nicht permanent beeinträchtigt werden. Allerdings muss man im Moment abwarten und einen kühlen Kopf behalten, um überhaupt erst einmal übersehen zu können, was an Schaden passiert ist - an materiellem und immateriellem.

Das Einschneidende an dem Angriff umschreiben viele damit, dass sie sagen: Nichts wird mehr so sein, wie es vorher war.

Das scheint mir richtig und falsch zugleich.Wenn man sagt, nichts wird so sein wie vorher, so bedeutet das in meinem Verständnis, dass man sich mit ganz neuen Problemen befassen muss, die auch auf eine ganz neue und andere Art und Weise gelöst werden müssen, und dass davon gewisse Seiten des Lebens in unserem Land, aber auch in Europa oder in Japan, betroffen sein werden. Andererseits gibt es Aspekte der amerikanischen Gesellschaft, die sich bestimmt nicht ändern werden - das Leben in den Städten, das Verhältnis in der Familie, zur Kirche, zur Universität. Amerika ist, zum Beispiel, ein Ort, der weiter eine Einwanderungspolitik fortführen wird, bei der man nicht erst eine lange Debatte haben muss, ob Amerika ein Einwanderungsland ist oder nicht. Das wird sich nicht ändern - das wäre der größte Schock meines Lebens, wenn sich das ändern würde.

Doch der Terrorangriff wird Auswirkungen auf die Psychologie des Landes haben. Wird er als Demütigung empfunden werden? Wird sich Trotz entwickeln? Ein Autor hat in diesen Tagen an den Diplomaten George F. Kennan erinnert, der am Anfang des Kalten Krieges die Hoffnung geäußert hat, Amerika könne aus dieser Herausforderung auch gestärkt hervorgehen.

Da kann ich nur spekulieren, denn ich sitze ja im Moment in Berlin und kann nicht nach Hause, weil der Luftverkehr noch nicht wieder in Gang gekommen ist. Aber ich habe die Bilder gesehen. Und mich hat zum Beispiel sehr beeindruckt, wie die Leute Spalier stehen am Westside Highway, auf dem die Helfer zu den Rettungs- und Aufräumarbeiten fahren - dreißig, vierzig, fünfzig Querstraßenblocks vom World Trade Center entfernt. Manche sind ernst, manche weinen, aber viele klatschen, viele bringen etwas zu trinken, etwas zu essen. Ich habe irgendwo gelesen, dass 600 000 Menschen Blut gespendet haben. Also, wenn ich voraussagen soll, wie die amerikanische Gesellschaft diesen Anschlag aufnimmt, so würde ich sagen, dass er die amerikanischen Bürger zusammenbringen wird. Und wenn der Präsident sagt, wir werden die Welt in einen Krieg gegen diese Art von Attacke führen und wir werden gewinnen, dann klingt das etwas hochtrabend und ist es vielleicht sogar. Aber es zeugt von einer gewissen amerikanischen Einstellung, von Optimismus und Mut, die ziemlich mit dem nationalen Charakter übereinstimmen.

Woher wird die Kraft kommen, das zu überwinden und nach vorne zu sehen? Ist es nur der Nationalcharakter, diese nicht sehr verlässliche Größe?

Es kommt erstmal daher, dass Amerika sehr stark ist, reich an Menschen, mit einer differenzierten Wirtschaft. Es ist auch ein optimistisches Land mit großem Vertrauen in die eigene Kraft. Man denkt, I can do it. Manchmal denkt man das zu schnell und zu oft. Vielleicht unterschätzen die Leute, wie schwer es sein wird, diesen Schlag zu verwinden. Aber über die Möglichkeiten verfügt Amerika.

Und die bemerkenswerte Unterstützung von jenseits des Atlantiks? Die Nato hat zum ersten Mal den Bündnisfall festgestellt. Fast alle Nationen haben Amerika ihre Sympathie versichert.

Ich glaube, hier kommen wir an einen Kreuzweg. Es ist meiner Meinung nach äußerst wichtig, dass unsere Nato-Verbündeten, unsere europäischen Alliierten und andere, Japaner, Russen, wenn möglich Chinesen, jetzt Schulter an Schulter mit uns zusammenstehen. Denn es ist wirklich so, dass alle gefährdet sind. Außerdem müssen die terroristischen Gruppen verstehen, dass sie nicht nur ein Land gegen sich haben, sondern alle Länder der Welt und von keinem mehr geschützt werden. Drittens wird man sich in Amerika sagen - und ehrlich gesagt, das würde auch mir durch den Kopf gehen -, wir haben nun seit vierzig, fünfzig Jahren in Europa unsere Truppen gehabt und unser Geld hergeschickt - den Marshall-Plan -, und selbst mit unseren ehemaligen Feinden zusammengearbeitet, um ihnen bei dem Wiederaufbau ihrer Wirtschaft zu helfen. Nicht nur aus altruistischen Gründen, sondern weil wir dachten, ein gesundes Europa sei besser als ein krankes und wir wollen es besser machen als nach dem Ersten Weltkrieg. Aber immerhin, wir haben es gemacht. Und nun erwarten wir von unseren Alliierten, dass die Sache auch einmal andersherum gehen muss. Aber nicht nur fünf Ruhe-Minuten des Gedenkens, Blumen vor der Botschaft, Massenversammlung, Resolutionen. Jetzt müssen unsere Alliierten auch gewisse Risiken mittragen.

Und wenn das nicht funktioniert, was passiert dann? Die Sollbruchstellen in der Übereinstimmung sind ja schon zu spüren. Die Gedanken von Vergeltung oder gar von Rache sind etwas, was den Europäern schwer eingeht.

Dann werden wir es alleine machen. Aber wenn wir es alleine machen, würde das auf die Zukunft der Beziehung meiner Meinung nach einen negativen Einfluss auf das atlantische Verhältnis haben.

Ein Rückzug in einen neuen Isolationismus? Ist das für Amerika eine Versuchung?

Nein, seit den dreißiger Jahren Jahren gibt es in Amerika keinen Isolationismus mehr. Es gibt manche Menschen, die das befürworten, und man muss ein Auge darauf halten. Aber nicht die Regierungen, ob Republikaner oder Demokraten. Wie würden Sie sich sonst unsere Zusammenarbeit mit der Nato, mit der EU, der OSZE oder den Vereinten Nationen erklären? Amerika spielt ja seine Rolle in allen Weltgegenden, beim Internationalen Währungsfonds und der Weltbank.

Die Bedenken auf der europäischen und auch auf der deutschen Seite richten sich auch eher darauf, dass der Präsident, die Regierung des Landes unter einem solchen inneren Druck steht, zu handeln - einfach um den Emotionen gerecht zu werden, die der Terrorschlag freigesetzt hat. Das könnte zu unbedachten Aktionen führen, bei denen die Europäer genötigt wären mitzumachen, auch wenn man das nicht für richtig hält.

Der Druck ist groß, da haben sie recht. Aber die Zahl der Opfer wird, erstens, vermutlich noch größer sein als bei Pearl Harbor - wahrscheinlich die größte Zahl seit dem amerikanischen Bürgerkrieg in den 1860-er Jahren. Da ist die Versuchung groß, überschnell zu handeln, hastig zu handeln, unbedacht zu handeln. Dennoch bin ich mir ziemlich sicher, dass man nicht dieser Versuchung erliegen wird. Zweitens, dass man sich ebenso bewusst ist, dass die Zusammenarbeit mit unseren Alliierten wichtig ist. Aber auch, dass man nach einer gewissen Zeit des Austauschs ungeduldig werden wird. Ich habe ja in genug internationalen Konferenzen mitverhandelt, um zu wissen, dass Länder in so einem Moment sehr, sehr vorsichtig werden, oft sogar feige und dann auch egoistisch, und dass sie nur noch daran denken, was für sie das Beste ist. Aber ich hoffe sehr, dass alle Länder klug und logisch handeln werden. Ich möchte dazu sagen, ich habe das Gefühl, nach allem, was ich von der Bundesrepublik bis jetzt gesehen habe, dass sie eines der Länder sein wird, die zweifelsfreier und positiver an unserer Seite stehen werden als vielleicht manches andere. Ich finde: Auch mit gutem Grund.

Dieser Terror-Schlag hat ein Nervenzentrum der Zivilisation getroffen, das zugleich ein Zentrum der Weltwirtschaft ist. Frage an den ehemaligen amerikanischen Finanzminister, den Finanzfachmann, den Beteiligten an vielen internationalen Verhandlungen: Besteht die Gefahr einer länger dauernden Desorganisation, gar einer Störung des Welthandels?

Es ist erst einmal sehr wichtig, dass die Hauptinstitutionen, die die Weltwirtschaft beeinflussen, so schnell wie möglich wieder funktionieren. Eines davon ist die New Yorker Börse, die nun mal ein gewisses Symbol für die Weltwirtschaft und den Welthandel ist. Die Tatsache, dass sie drei Tage ausgefallen ist, ist ein schwerwiegender Vorgang. Aber ab Montag wird sie, allen Schwierigkeiten zum Trotz, wieder arbeiten - ein gutes Zeichen. Zweitens ist es wichtig, dass die anderen großen Organisationen, der Internationale Währungsfonds, die Weltbank und die Zentralbanken, ihr System und ihr Netzwerk der Information und der Zusammenarbeit aktiv verfolgen. Drittens ist anzunehmen, dass sich auch die großen Kursschwankungen, die es in den ersten Tagen gegeben hat, wieder beruhigen.

Und die Schwäche des Dollars?

Ich habe lange genug mit diesen Problemen zu tun gehabt, um gelernt zu haben, dass momentane Effekte längst noch nicht fundamentale sein müssen. Nachdem ich hier kein Geld investiere, nur darüber nachdenke, bin ich der Meinung, dass die Investoren sehr bald zu dieser Einsicht kommen werden, dass sich die Situation nicht grundlegend geändert hat. Nein, das Wichtigste ist, dass die Opec-Preise stabil bleiben, weiter Liquidität für das System bereitsteht, die Zentralbanken ihre Aktionen koordinieren und die Börsen wieder funktionieren. Dann muss man sich langsam ein besseres Bild darüber machen, welche Branchen geschädigt sind. Das sind zuerst die Versicherungsgesellschaften, die Fluggesellschaften, auch wohl der Tourismus und gewisse Luxusartikel. Vielleicht auch gewisse Finanzinstitutionen, aber das glaube ich nicht - die verdienen so oder so.

Aber die ungeheuren Versicherungssummen, die fällig werden - kann man die so auf die leichte Schulter nehmen? Woher finanzieren die sich?

Ich habe ja jahrelang im Aufsichtsrat einer der größten Versicherungen Amerikas gesessen und habe da gelernt, wie sehr die Versicherungsgesellschaften der Welt miteinander verbunden sind. Dadurch, dass keine Versicherungsgesellschaft ihre Risiken alleine trägt, sondern sich alle gegenseitig rückversichern, ergibt sich ein riesiger Pool der Risiken-Verteilung.

Die Gesamthaftung für die Terrorattacke, die politisch so mühsam herzustellen ist, ist finanztechnisch schon gegeben.

Die ist bereits da. Ich habe keine Befürchtung, dass das Unglück die Versicherungsgesellschaften in die Knie zwingen wird. Aber entscheidend für die Entwicklung ist die Aufrechterhaltung des Vertrauens der Verbraucher und Investoren in die Zukunft. Davon hängt alles ab. Und damit müssen sich die Wirtschaftsbehörden in allen unseren Ländern noch intensiv befassen.

Vor einer Woche haben Sie, Herr Blumenthal, mit einem großen festlichen Abend das Berliner Jüdische Museums eröffnet. Zwei Tage später ereignete sich dieser Angriff auf Amerika, der eine neue Qualität des Terrors signalisierte. Vielleicht ist er sogar - nach dem Holocaust - eine neue Chiffre des Schreckens.

Das ist mir sofort oder sehr bald danach durch den Kopf gegangen. Ich habe ja in meiner Ansprache davon gesprochen, dass dieses Museum nicht nur ein Platz sein solle, an dem die Leute etwas über die jüdisch-deutsche Geschichte der vergangenen zweitausend Jahre lernen sollten und über ihr Land. Das Museum soll auch irgendwie einen Beitrag dafür leisten, dass wir als Menschen besser zusammenleben, nicht zuletzt mit Minderheiten und Andersartigen, und den Sinn für die Balance schärfen zwischen der Freiheit und der Notwendigkeit, uns zu schützen. Deshalb habe ich ja meine Rede mit einem - wenn sie so wollen - Appell beschlossen: für den "weltweiten Kampf gegen Rassismus und religiöse Toleranz, für die Rechte aller Minderheiten und für die Menschenrechte". Was zwei Tag später in Amerika geschah, ist ein dramatisches Beispiel dafür, wie notwendig dieser Kampf ist.

Zu den Vorzügen Amerikas gehörte es imme

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