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Ein Insasse der Justizvollzugsanstalt (JVA) Stuttgart im Stadtteil Stammheim in seiner Einzelzelle am Fenster.

© dpa/Marijan Murat

Freiheit für einen Doppelmörder: Das Bedürfnis nach Sicherheit kann auch unmenschlich sein

Das Bundesverfassungsgericht gibt einem Straftäter eine Chance, der seit einem halben Jahrhundert in Haft sitzt. Das ist gut so. Denn Sicherheit kann nicht das Einzige sein, was zählt.

Eine Kolumne von Jost Müller-Neuhof

Als der Hilfsarbeiter Klaus B. in Haft kam, war er 26 Jahre alt. Doppelmord, er tötete eine junge Frau und deren Mutter. Heute ist er 78. Ein Leben hinter Gefängnismauern, wie es nur noch selten ist.

Sterben kann Klaus B. aber womöglich in Freiheit: Das Bundesverfassungsgericht hat Beschlüsse von Koblenzer Gerichten aufgehoben, wonach er in Haft bleiben sollte (Az.: 2 BvR 117/20).

Jetzt gibt es eine Chance für ihn, doch zuvor muss eine Antwort gefunden werden: Wie gefährlich ist Klaus B.? Der Mann ist das, was man früher einen Spanner nannte. Die Justiz bescheinigte ihm eine sexuelle „Dranghaftigkeit“; ein Exhibitionist, ein Voyeur, ein Sexualtäter. Es bestehe ein Risiko. Der Gutachter qualifizierte es als „niedrig“, die Justiz als „nicht unerheblich“. Es gab Freigänge und Wechsel zwischen offenem und geschlossenem Vollzug. Man fand Pornohefte, Kabelbinder, ausgeschnittene Frauenköpfe.

So ist es, das Risiko. Es ist schon ein Risiko, es einzuschätzen. Wer sich irrt, läuft Gefahr, selbst als Risiko qualifiziert zu werden.

Jost Müller-Neuhof

Alle wollen Sicherheit, am besten absolute. Das Null-Risiko. Auch der Generalbundesanwalt war dagegen, die Reststrafe zur Bewährung auszusetzen. Er sprach von einem „vergleichsweise niedrigen, aber nicht unerheblichen, auf konkreten tatsächlichen Anhaltspunkten beruhenden Risiko“.

So ist es, das Risiko. Es ist schon ein Risiko, es einzuschätzen. Wer sich irrt, läuft Gefahr, selbst als Risiko qualifiziert zu werden.

Die Folgen sind Beschlüsse wie der des Koblenzer Landgerichts, der nicht mal beanstandungsfreie Langzeitausgänge für ein gutes Zeichen hielt. Grund: Der Gefangene habe erkannt, dass er nur rauskommt, wenn er sich einwandfrei verhält. Nach dieser Logik wäre die Bewährung abgeschafft. Denn wer sich bewährt, bewährt sich zur Tarnung.

Sicherheitsbedürfnisse sind menschlich. Aber ihnen immer und überall den Vorrang einzuräumen, kann unmenschlich sein. Erst das Verfassungsgericht fand den Mut, Lebensalter und Haftdauer angemessen in Rechnung zu stellen. Nur hier, ganz oben und fast über allem, findet sich endlich jemand, der bereit ist, das Risiko zu tragen, das diese Entlassung birgt.

Klaus B. übrigens ist minderbegabt; verurteilt wurde er aufgrund von Geständnissen, die er ohne Anwalt abgab und später widerrief. Er sagt bis heute, er sei unschuldig. Ist er es?

Man spricht von Sicherheit und Prävention und glaubt, man sei unfehlbar. Das könnte der größte Irrtum sein und zugleich das größte Risiko.

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