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Politik: Falsch gepflegt

Ein Mediziner hat in städtischem Auftrag Leichen untersucht. Er wies schwere Missstände bei der Pflege nach – und sollte schweigen

Als Erstes hat Joachim Eidam einen Maulkorb verpasst bekommen. Der Rechtsmediziner von der Medizinischen Hochschule Hannover, vom städtischen Gesundheitsamt mit Leichenschauen beauftragt, sollte mit seinen Zahlen doch bitte schön nicht an die Öffentlichkeit. Eidams Zahlen nämlich sind erschreckend: Von allen 16 788 Leichen, die der Mediziner seit Februar 1999 im Krematorium Lahe bei Hannover vor der Einäscherung untersucht hat, wiesen mehr als 2300 nachweisbare Pflegeschäden auf. Fast jeder siebte – 13,8 Prozent – hatte ein Druckgeschwür, war also wund gelegen. Bei einem Prozent waren die Druckstellen so schlimm, dass sie als Todesursache in Frage kämen.

Eidam berichtet von „pizzatellergroßen Zonen“, bei denen man „bis auf den Knochen sehen“ konnte, von „jauchig zerfallenden Geschwüren mit schwarz-nekrotischen Wundrändern“. Vor ihrem Tod, das lässt sich erahnen, mussten diese Menschen qualvoll gelitten haben. Weil sich keiner um die richtige Lagerung kümmerte, weil Pfleger die Wunden übersahen. Wobei Letzteres kaum nachvollziehbar ist. Eine Heimbewohnerin erzählte Eidam, dass es vor dem Tod ihrer Zimmernachbarin so gestunken habe, „als ob jemand bei lebendigem Leib verfault“.

Druckgeschwüre (im Medizinerdeutsch: Dekubitus) entstehen, wenn Patienten zu lange auf der gleichen Körperstelle liegen. Das Gewebe stirbt ab, Bakterien finden Nahrung, es kann zu tödlichen Infektionen kommen. Eidams Zahlen sind deshalb ein Vorwurf. An Altenpfleger, Krankenschwestern, Ärzte, Angehörige. Über den Versuch der Stadt, den Mantel des Schweigens darüber zu breiten, wundert er sich dennoch. „Das sind Fakten“, sagt der Rechtsmediziner, „und die betreffen nicht nur Hannover“. In Hamburg lag die Dekubitus-Rate 1998 bei 11,1 Prozent, in Berlin im Jahr 2000 bei 16,1 Prozent. Bundesweit beträgt sie nach einer Studie der Humboldt Universität in Pflegeheimen 15 bis 20, in Krankenhäusern gar 20 bis 40 Prozent der Risikopatienten. Folgekosten pro Jahr: 1,5 bis 3 Milliarden Euro.

Und das, wo das Geld in Kranken- und Pflegekassen immer knapper wird. Ärzte und Pflegekräfte wüssten „erschreckend wenig“ über Druckgeschwüre, sagt Eidam, die wichtige Vorbeugung finde vielerorts nicht statt. Immerhin: Die Zahl der „richtig schlimmen Fälle“ werde seltener. Vielleicht auch, weil es seit 2000 einen nationalen Standard zur Dekubitusprophylaxe gibt. Juristisch handle es sich dabei um eine Art „vorweggenommenes Sachverständigengutachten“, sagt Christine Sowinski vom Kuratorium Deutsche Altershilfe. „Tritt ein Dekubitus auf, muss die Einrichtung nachweisen, dass sie dem Standard entsprechend gearbeitet hat.“ Dies, so Eidam, „scheint sich ganz langsam auch in den Krankenhäusern herumzusprechen“.

Nicht untersucht hat der Rechtsmediziner übrigens andere Pflegeschäden. Bei der Deutschen Gesellschaft für Ernährung schätzt man, dass in manchen Heimen bis zu 80 Prozent der Bewohner unterernährt sind. Und immer mehr Pflegebedürftige würden Opfer von Gewalt, sagt Professor Rolf Hirsch, Chef der Gerontopsychiatrie an den Rheinischen Kliniken in Bonn – vernachlässigt, isoliert, mit Pillen ruhig gestellt, ans Bett geschnallt. Der Experte, der vor fünf Jahren die Initiative „Handeln statt Misshandeln“ gegründet hat, sieht eine „Verrohung der Pflege“ – die allein mit fehlendem Geld nicht zu begründen sei.

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