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Blick auf die Kirche. Blickt auf zur Kirche!

© dpa/Julian Stratenschulte

Dramatischer Mitgliederschwund in der Evangelischen Kirche : Von allen guten Geistern verlassen?

Hunderttausende verlassen jährlich die Kirche. Umso mehr muss die Institution Gründe bieten, in ihr zu bleiben. Entschiedene Liberalität sollte einer sein.

Ein Kommentar von Stephan-Andreas Casdorff

Es nimmt kein Ende. Von Jahr zu Jahr sinken die Kirchenmitgliederzahlen, aktuell um Hunderttausende in der evangelischen Kirche. Die Relevanz des Glaubens schwindet. Wo soll das enden: in der Bedeutungslosigkeit?

Das muss nicht sein. Auch die Kirche muss an ihre Bedeutung glauben – und sie leben, mehr denn je. Wer, wenn nicht sie, muss von ihrem Auftrag mitten in der Gesellschaft überzeugt sein?

Aber eben mitten in der Gesellschaft. Die Zeichen der Zeit zu erkennen, fordert schon Matthäus in der Bibel. Die Zeichen der Zeit sind vermeintlich, dass Glaube nur glühend sein kann, wenn er radikal gelebt wird. Es gibt Beispiele dafür in der Welt, aber es sind die falschen.

Die Relevanz der Kirche entscheidet sich daran, was sie dem Menschen zu bieten hat. Der Auftrag der Kirche ist kein Firlefanz. Er lautet, sich immer wieder zu erneuern. Wie die Gesellschaft. „Beständig neu“ lautet der Leitspruch des Doms zu Brandenburg, einer Kathedrale des Politischen. Und der ist bald 900 Jahre alt. Erneuerung hat Tradition.

Politisch ja, aber nicht im Sinne einer Partei

Politisch ist das, aber nicht parteipolitisch. Die wirtschaftlichen Schwierigkeiten des Einzelnen durch Krisen und Inflation, die Alterung der Gesellschaft, das Misstrauen gegen Heilsversprechen – das betrifft mehr als eine Partei. Rückzug in sich selbst ist keine Antwort, die irgendeinem hilft, weder dem einzelnen Menschen noch der Institution Kirche.

Rückbesinnung und Selbstvergewisserung tun not. Bischof Christian Stäblein sagt: „Wir als Kirche müssen uns der Verantwortung stellen, dass wir auch durch unser eigenes Versagen Menschen sehr enttäuscht und verloren haben.“ Allerdings. Und da geht es um mehr als das Versagen bei der Aufarbeitung der Missbrauchsfälle. Es geht darum, dass die Kirche die Sprache der Menschen sprechen muss.

Sich dem zu stellen, widerspricht umgekehrt jedem Rückzug in sich selbst. Vielmehr verlangt das: Heraus ins Leben! Wie anders als durch Zugewandtheit, Gespräche, Öffentlichkeit des Glaubens sollen Sinn und Hoffnung, Zuversicht, Vertrauen und Engagement gewonnen werden?

Da gibt es einen Lichtblick. Die Tauffeste und Taufinitiativen vergangenes Jahr in der Region Berlin, Brandenburg, Schlesische Oberlausitz waren ermutigend. Viele Menschen kamen. Aus Neugierde. Daraus kann ernstes Interesse werden.

Es gibt die Gute Nachricht des Evangeliums

Auf der Grundlage fester Wertevorstellungen, der Guten Nachricht des Evangeliums, Gesellschaft gestalten: Das kann gelingen. Denn nach der letzten Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung bleiben die gesellschaftlichen Erwartungen an die Kirche sehr hoch.

Der Einsatz für Arme, Kranke und Bedürftige, für Solidarität und für Gerechtigkeit in der Welt. Der Einsatz für Menschen mit Lebensproblemen. Der Einsatz für werdende Eltern, für Geflüchtete, für Obdachlose – alles das ist nicht obsolet. Im Gegenteil. Dafür lohnt die Kirchensteuer.

804.487
Gläubige sind noch in der Kirche der Region Berlin, Brandenburg, Schlesische Oberlausitz.

Dass es für die Kirche besser werden kann, dass der Mensch mit anderen daran arbeiten kann, ist allen Einsatzes wert. 18 Millionen sind es immerhin noch, die der evangelischen Kirche anhängen, mehr als 804.487 in der Region. Wenn das kein Potenzial ist.

Auch innere Liberalität kann glühende Anhänger finden. Muss sie außerdem in Zeiten, da es zunehmend gilt, in der Gesellschaft Menschenfeindlichkeit in Form einer Partei zu begegnen. Das geht am besten mit entschieden liberaler, menschenfreundlicher Haltung; das ist die richtige Alternative.

Dazu bedarf es Mut. Beispielsweise: Die Bibel verbietet gleichgeschlechtliche Ehen nicht, das Familienbild ist nicht eindimensional. Wie auch, wo doch der Glaube eine andere Dimension anspricht. Also … weiter auf diesem Weg.

Christ sein heißt auch, demütig zu sein. Und wer nun in diesem Sinne Demut verlangt: Das heißt nicht De-Mut, mit einer lateinischen Vorsilbe, heißt nicht ohne Mut, sondern Vision minus Ängste. So sollten die Protestanten handeln. Und die Vision kann sein: Es gibt den einen guten Geist – und möglichst viele von ihm zu beseelen.

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