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Feuerwerksraketen explodieren in der Silvesternacht 2018/2019 über der Innenstadt.

© Peter Kneffel/dpa

Silvesternacht: Der Mann, der aus dem Fenster fiel

In der Silvesternacht fiel ein Mann aus dem Fenster. Zumindest erzählte mir das ein Freund, der sich einen ruhigen und unspektakulären Einstieg ins neue Jahr gewünscht hatte. Eine Kolumne

Er sei bei einem Dinner mit Freunden gewesen, habe sich kurz nach Mitternacht verabschiedet, um zu Hause in aller Ruhe auf seine Lieblingsart, nämlich lesend, einzuschlafen. Dass ein solches Vorhaben in Berlin zu Silvester kaum zu verwirklichen ist, sei ihm dann auch aufgefallen, als ihn die Clubmusik seiner Nachbarn wach hielt. Schließlich sei er, ohne zu lesen, unruhig eingeschlafen. Das Geräusch eines dumpfen Aufpralls habe ihn in den frühen Morgenstunden geweckt.

Ein ungewöhnliches Geräusch, das ihn nicht geweckt habe, weil es sehr laut, sondern eher weil es unheimlich gewesen sei. Vom Schlafzimmerfenster aus habe er einen Mann regungslos und bäuchlings im Morgenmantel im Hinterhof liegen sehen. Ohne genau begreifen zu können, wie dieser Mann dorthin kam, sei er sofort hinuntergelaufen.

Ich musste bei dieser Geschichte sofort an den französischen Film "La Haine" (zu deutsch: Hass) von Matthieu Kassovitz denken. Mit großer Faszination hatte ich den Film in den 90er Jahren gesehen. Er thematisiert aus der Perspektive von drei jungen Menschen Ausschreitungen und Polizeigewalt in der Pariser Banlieue. Der berühmte Vorspann des Films geht so: "Dies ist die Geschichte von einem Mann, der aus dem 50. Stock eines Hochhauses fällt. Während er fällt, wiederholt er, um sich zu beruhigen, immer wieder: ‚Bis hierher lief's noch ganz gut, bis hierher lief's noch ganz gut...‘. Aber es kommt nicht auf den Fall an, sondern auf die Landung!".

Der Mann im Morgenmantel, vor dem mein Freund jetzt stand, war nicht aus dem fünfzigsten Stock gefallen, sondern aus dem ersten und sein Fall hatte nichts mit Pariser Vororten zu tun oder mit der Polizei. Trotzdem konnte ich mir diesen Fall nach dem Anschlag in der Silvesternacht im Ruhrgebiet als Bild für eine – für unsere – fallende Gesellschaft vorstellen.

Ein Mann versucht mit seinem Auto Menschen umzufahren, die er als "Ausländer" liest Wobei "Ausländer" für ihn – so meint er es und so verstehen es sofort alle – nicht-weiße Menschen sind. Eine syrische Familie wird verletzt, eine afghanische Mutter mit Kind und ein Deutschtürke.

Der Innenminister Nordrhein-Westfalens, Herbert Reul, bezieht die ausgeübte Gewalt in der "Westfälischen Rundschau" auf einen Zustand in der Gesellschaft insgesamt: "Es gibt in dieser Gesellschaft im Moment – und das bedrückt mich am meisten – zu viele, die von unterschiedlichen Motivlagen her, meinen, sie hätten das Recht, Gewalt anzuwenden und damit Probleme zu lösen". Dass der Täter keine zunächst offensichtlichen Verbindungen zur rechtsextremen Szene haben soll, verweist darauf, dass Rassismus eben nicht nur ein Randphänomen ist. Jeder kann sich fragen, ob er sich anders mit diesem Anschlag beschäftigen würde, wenn die Opfer weiß wären. Wo unsere Gesellschaft steht oder wohin sie fällt, hängt davon ab, wie sehr wir uns dieser Frage stellen. Wie sehr hängt der Wert eines Menschenlebens in unserer Gesellschaft davon ab, ob der Körper weiß ist oder nicht? Was macht eine solche Unterscheidung mit unserer Empathie insgesamt?

Der Mann im Morgenmantel, stellte sich heraus, war Teil der Partygesellschaft im ersten Stock im Haus meines Freundes. Glücklicherweise brach er sich nur ein paar Knochen, die wieder heilen werden. Es stellte sich heraus, dass niemand auf der Party gemerkt hatte, dass jemand aus dem Fenster gefallen war.

Deniz Utlu

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