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 Eine Frau betrachtet Bilder unserer Vorfahren in einer Ausstellung zur Evolutionstheorie in Stuttgart.

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Was WISSEN schafft: Willkommen im Kosmos

Zu Unrecht hat der Materialismus einen schlechten Ruf - auch weil er sich auf die Naturwissenschaft beruft, deren Ergebnisse stets vorläufig sind

Materialismus ist ein ziemlich abschreckender Begriff. Man mag dabei an das verkorkste Experiment des real existierenden Sozialismus denken, zu dessen Ideologie auch eine kräftige Prise Vulgärmaterialismus gehörte. Oder an Menschen, die nur aufs Geld aus sind, also zutiefst materialistisch gesinnt. Philosophisch gesehen werden sich viele unter einem Materialisten jemanden vorstellen, der einer oberflächlichen Weltanschauung anhängt und nur Materie als existent anerkennt. Er steht scheinbar in krassem Gegensatz zum Zeitgeist, der in Spiritualität und Fantasien vom Übersinnlichen schwelgt und sich das Leben eher in sanften Pastellfarben malt, statt es auf seine materiellen Wurzeln zurückzuführen. Zeit, mit einigen Missverständnissen aufzuräumen.

Der moderne Materialismus ist inspiriert von den Naturwissenschaften und ihren Erkenntnissen. Dazu gehören zum Beispiel die Entstehung des Universums, die Evolution des Lebens auf der Erde und die Erforschung des menschlichen Gehirns. Aber die Beziehung ist wechselseitig. Denn der Materialismus ist zugleich die Basis der Wissenschaften, die auf Beobachtung, Messung und Experiment beruhen und aus ihren Ergebnissen Gesetzmäßigkeiten ableiten.

Der Materialismus nimmt an, dass es auf der Welt überall mit rechten Dingen zugeht, übernatürliche Erscheinungen und Wunder gibt es nicht. „Die Welt besteht ausschließlich aus Dingen“, schreiben der Philosoph Mario Bunge und der Biologe Martin Mahner in ihrem Buch „Über die Natur der Dinge“. Dinge sind veränderbar und wirksam zugleich, lautet ihre Festlegung.

Das klingt zunächst ein wenig so, als würde die Vielfalt der Welt und unseres Erlebens ignoriert werden. Stattdessen wird alles auf Physik reduziert, das All zu nichts mehr als einem riesigen Atombaukasten. Doch der Materialismus hat dazugelernt. Magnetfelder, schwarze Löcher, Ökosysteme und menschliche Gesellschaften sind durchaus konkret, sind „Dinge“ und der Erforschung zugänglich, obwohl sie teilweise immateriell erscheinen und wir sie nicht sehen können, sagen Bunge und Mahner. Mehr noch: Auch Denken und Fühlen sind aus Sicht der meisten Materialisten höchst wirkliche und ernst zu nehmende Phänomene, obwohl sie nicht im einfachen Sinn „materiell“ sind und man – nicht nur unter Materialisten – heftig darüber diskutiert, wie man ihr Zustandekommen und ihre Existenz erklären kann.

Eine weitere Kritik dreht sich um das Prinzip von Ursache und Wirkung, um Kausalität. Nach dieser Idee folgt die Wirkung der Ursache zwingend. Wie hintereinander aufgereihte Dominosteine, die, einmal angetippt, einer nach dem anderen umfallen. Eine unerbittliche Kettenreaktion, die keine Freiheit im Universum zulässt. Aber was ist mit dem Zufall? Natürlich gibt es vermeintlichen Zufall, der auf Unkenntnis beruht. Die Billardkugel fällt scheinbar willkürlich in eine Vertiefung, gehorcht in Wirklichkeit jedoch den Gesetzen der Mechanik und damit Ursache und Wirkung.

Allerdings hat die Quantenphysik eindeutig gezeigt, dass auch „echter“ Zufall in die Natur „eingebaut“ ist, etwa beim radioaktiven Zerfall. Ist damit das geschlossene materialistische Weltbild hinfällig? Nein, hier haben Wissenschaft wie Materialismus ebenfalls ihren Horizont erweitert. Der „echte“ Zufall hat nicht etwa Chaos zur Folge und damit das Ende des Prinzips von Ursache und Wirkung, sondern unterliegt selbst Gesetzmäßigkeiten. Er ist gleichsam gezähmt worden. Bleibt die Frage nach Sinn und Bedeutung. Der Materialismus beruft sich auf die Naturwissenschaft, deren Ergebnisse stets vorläufig sind. Sie forscht einfach immer weiter, auf eine Antwort folgen drei neue Fragen. Zudem beschreibt die Wissenschaft die Natur lediglich. Sie erklärt das Wie. Die bohrende Frage nach dem Warum muss sie aber offenlassen.

Dem Materialisten ist der Ausweg des religiösen Menschen verwehrt, der Gott als letztes Prinzip, als Grund aller Dinge ansieht und in ihm Schutz und Trost findet. Aber auch die Alternative hat ihre Reize. „Niemand erschuf das Universum und niemand lenkt unsere Geschicke“, sagt der britische Physiker Stephen Hawking. „Es gibt wahrscheinlich weder einen Himmel noch ein Jenseits. Wir haben nur dieses eine Leben, um die grandiose Gestalt des Universums schätzen zu lernen, und dafür bin ich unendlich dankbar.“

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