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Der Berliner Schriftsteller Tilman Rammstedt

© Carolin Saage

Online-Roman von Tilman Rammstedt: Zurück zum Live-Album

Der Schriftsteller Tilman Rammstedt schreibt an einem neuen Roman: Im Internet gibt es davon täglich eine Lieferung - und das Scheitern ist einkalkuliert.

Es ist Freitag, der 22. Januar, und es ist dies der erste Tag, an dem der Berliner Schriftsteller Tilman Rammstedt nicht recht weiterkommt mit seinem Internet- Romanprojekt „Morgen mehr“. Heute nicht so viel – man stutzt zunächst beim Öffnen der E-Mail mit dem täglichen Romankapitel, weil der Text sich auf einmal kursiv darstellt. Erfährt beim Lesen aber sofort, dass sich der Autor „heute sogar in seinem Kopf verirrte, obwohl der doch viel kleiner ist als das Leben, und dort von Sackgasse zu Sackgasse sprang und in jeder von ihnen mit Anlauf gegen Wände rannte und dabei laut rief, dass es sich bestimmt um keine wirklichen Wände handele, sondern um geschickt getarnte Türen, und man müsse nur einfach besonders entschieden dagegenrennen, dann wäre der Weg sofort frei, er wisse das ganz sicher (...)“.

Eine kleine Tür öffnet sich schließlich, es gibt dann noch ein reguläres Kapitel, und trotzdem ist man als Leser auch erleichtert, gar froh: endlich ein Stocken, eine weitere Textebene, eine Schreib- und Autorengegenwart, ein Abgleich von Leben, Echtzeit, Textentstehung, endlich also alles das, was den Reiz von beispielsweise Blogs und Internettagebüchern von Schriftstellern ausmacht.

Das Abo für den Roman kostet 8 Euro

Tilman Rammstedt, Ingeborg-Bachmann-Preisträger des Jahres 2008, Autor von komischen Romanen wie „Der Kaiser von China“ und metafiktionalen Spielereien wie „Die Abenteuer meines ehemaligen Bankberaters“, schreibt seit Montag, den 11. Januar, an einem Roman, von dem es täglich eine Lieferung gibt: per Mail oder auf WhatsApp, für Rammstedt-Fans und andere Interessierte, die sich auf der Hanser-Verlagsseite „morgen-mehr.de“ registrieren lassen. Und bereit sind, acht Euro für ihr Abo zu bezahlen. Am 8. April ist Schluss, dann soll der Roman fertig sein und Anfang Mai als gedruckte Fassung erscheinen, „gründlich lektoriert und überarbeitet“, wie es auf der Hanser-Website heißt.

Eine Operation am lebenden Herzen gewissermaßen, nur ohne bereitstehende Herz-Lungen-Maschine. Tilman Rammstedt liest sein Geschriebenes auch täglich vor, dazu gibt es jeweils ein neues Foto von ihm, gern am Küchen- oder Wohnzimmertisch, gern mit zerrauften Haaren. Und jeden Tag wird eifrig kommentiert, von Lesern und Abonnenten, ist mal anzunehmen, die der Verlagsaufforderung nachkommen: „Mischen Sie sich ein! Schlagen Sie vor! Widersprechen Sie! Rufen Sie dazwischen!“ Das offene Buch, bitte schön, sei dabei!

„Morgen mehr“ lebt von seinem Eventcharakter

Tägliche Kommentare aber gibt es nicht zuletzt von Hanser-Angestellten, insbesondere von Verleger Jo Lendle, der Zeichen zählt, freie Tage gibt oder sich, wie am dritten Tag, überrascht zeigt von dem Fleiß seines oft unter Schreibblockaden leidenden Autors:  „Ich sehe schon die Meldungen: ,Tilman Rammstedt hat das Internet vollgeschrieben.‘“

Womit Lendle es gut trifft: Bislang schreibt Rammstedt das Internet voll, schreibt er drauflos – zwar schon mit einem Plan, wie es das erste Kapitel mit einer Aufzählung demonstriert hat („Ich weiß den Anfang, den Mittelteil und den Schluss“), mit einer Anfangsidee von einem noch nicht geborenen Ich, das einerseits von der Mutter erzählt, die Anfang der siebziger Jahre auf Südfrankreich- Selbstfindungsreise nach dem Tod der Zwillingsschwester ist, andererseits vom Vater in Frankfurt, der eigentlich schon mit Zement an den Füßen auf dem Grund des Mains lag, sich aber nun widerwillig auf einen (möglichen) Roadtrip mit seinem (eigentlichen) Mörder macht.

Aber richtig zwingend ist das alles nicht: ein paar Einfälle, klar, ein paar schöne, mal verschlungene, mal poetische Sätze, die das manchmal arg Klamaukhafte konterkarieren, ob das reicht? Nun denn: Es handelt sich hier erst um den Anfang einer Geschichte, einer Lebensgeschichte, wie es scheint, da folgt ja noch einiges. Aber muss man der täglichen Verfertigung eines Romans wirklich beiwohnen? Ist das jetzt die Literatur von morgen?

„Morgen mehr“ lebt von seinem Eventcharakter, der zum Medium passt und vom Verlag befördert wird, von seiner Multimedialität, die durch die von außen kommenden Kommentare vielleicht die Kreativität des Autors beflügelt. Trotzdem denkt man bei der täglichen Lektüre schnell an das 19. Jahrhundert, als Fortsetzungsromane gang und gäbe waren, Autoren wie Balzac oder Dostojewski sich damit ihr Geld verdienten; und man erinnert sich auch an Zeiten, als zum Beispiel die „FAZ“ in ihrem Feuilleton neue Romane in Fortsetzungen abdruckte. Hat die wirklich jemand gelesen, als tägliche Lieferung, über Wochen und Monate?

Diese Bücher allerdings waren fertig, anders als der Roman von Tilman Rammstedt, und das Scheitern dieses Projekts steht fest mit auf dem Masterplan von Verlag und Autor. Ein Scheitern, das natürlich umso interessanter wird, je mehr Rammstedt dieses in kursivierten Passagen zum Thema macht, je mehr er in seine Werkstatt blicken lässt.

Statt „Morgen mehr“ könnte das neue Rammstedt-Buch also auch heißen „Wie ich es einmal nicht schaffte, einen Roman zu schreiben“. Das könnte ja wirklich lesenswert sein.

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