zum Hauptinhalt

© Alisa Kusnetsova

Yuriy Gurzhys Kriegstagebuch (97): Holen wir das Licht zurück!

Der ukrainische Autor, DJ und Musiker Yuriy Gurzhy lebt seit 1995 in Berlin. Hier schreibt er über den Krieg in der Ukraine.

Eine Kolumne von Yuriy Gurzhy

Im Zug aus Charkiw nach Chelm habe ich die obere Liege rechts, im selben Vierer-Abteil mit mir reisen eine ältere Dame und ihre Tochter. Unsere Fahrt wird 22 Stunden dauern, es gibt kein Wi-Fi, irgendwann kommen wir ins Gespräch. Als sie hören, dass ich eigentlich in Deutschland lebe, wollen meine Reisegefährtinnen wissen, was mich nach Charkiw gebracht hat.

Ich erzähle ihnen von den Auftritten und meinen Projekten mit Serhij Zhadan. „Serhij wie? Zhadan? Ach so, der Komiker? Nein? Kenne ich nicht“, wundert sich die Jüngere. Ich zeige ihr ein paar Bilder auf meinem Rechner.

Es fühlte sich wie ein Heimspiel an – auch wenn ich seit 27 Jahren in Berlin lebe, komme ich schließlich aus Charkiw und die Songs, die wir spielen, haben direkt mit der Geschichte dieser Stadt zu tun. Noch ganz am Anfang unserer Recherche, die Zhadan und mich zu unserem gemeinsamen Album „Fokstroty“ führte, haben wir im ersten Stock vom Slovo Haus rumgesponnen und überlegt, wie wir die Texte der innovativen ukrainischen Autoren, die vor 90 Jahren hier gewohnt haben, vertonen sollten.

„Stell Dir eine Disco vor“, sagte ich damals, „die es – rein theoretisch! – im Keller, direkt unter uns, im Jahr 1929 geben könnte. Und alle diese tollen Typen, Semenko, Schkurupij, Bazhan und Tychyna, tanzen mit ihren Freund*innen und hängen mit DJs rum“. Dieser alberne Gedanke ist damals unser Ausgangspunkt geworden – und nun, schloss sich in einem anderen Keller, weniger als zwei Kilometer vom Slovo Haus entfernt der Kreis.

Da tanzten die Charkiwer*innen zu 100 Jahre alten Texten, deren Autoren in den 1930ern umgebracht worden waren, zu der Zeit, als Stalin sich vorgenommen hat, die ukrainische Kultur zu vernichten. Und heute, im Jahr 2022, singen wir diese Songs zusammen, mitten im Krieg, bei dem es wieder genau um das Gleiche geht. 

Zwei Tage dauert meine Reise aus Charkiw nach Berlin und noch zwei Tage habe ich, um zu Hause runterzukommen, Atem zu holen und meine Reisetasche wieder zu packen – und ab geht es nach Bautzen, wo ich mit den ukrainischen Kindern im Thespis-Zentrum in den nächsten Tagen die Songs für das Musical „Die Reise ins Licht des Ozeans“ schreiben soll.

Als Verstärkung habe ich Grigory Semenchuk aus Lwiw eingeladen, vor Kurzem haben wir bei den „Ukrainian Songs Of Love And Hate“ zusammengearbeitet. Ich liebe seine Poesie und bin ein großer Fan des Rappers Brat, seines Alter Ego. 

Die Finsternis stiehlt dem Protagonisten seine Neujahrslaterne

Am 15. Dezember kommen wir beide in Bautzen an und lernen die Kinder kennen – manche von ihnen habe ich schon im Oktober getroffen, als ich zur Vorführung von „New Donbass Symphony“ hier war. Einige Ukrainer*innen, die 2022 vor dem Krieg fliehen mussten, fanden ein temporäres Zuhause in oder in der Nähe von Bautzen. Darunter sind auch Familien der Kindern, mit denen wir in Mykolajiwka und Popasna im Herbst 2020 die „New Donbass Symphony“ aufgenommen haben. Aber diesmal sind unsere Schreibpartner*innen noch jünger – und gemeinsam mit ihnen Musik zu machen, ist ein großer Spaß!  

Obwohl die Texte, die Grigory schreibt, den Inhalt von dem phantasmagorischen Märchen von Yana Humennaya illustrieren sollen, hat man das Gefühl, dass sie genauso gut auf die aktuelle Situation in der Ukraine zutreffen. Die Finsternis hat dem Hauptprotagonist des Musicals die Neujahrslaternen gestohlen, dafür jagt er sie jetzt durchs Universum.

Als wir den Song des Jungen mit dem siebenjährigen Artem aus Mykolajiwka proben, bekommt Semenchuk eine Nachricht von seiner Frau aus Lwiw – die ganze Stadt hat nach dem Raketenbeschuss gerade keinen Strom, schreibt sie aus dem Schutzbunker. „Das Licht zurückholen, das Licht zurückholen, holen wir das Licht zurück!“, singt Artem. Ich schaue zu Grigory und wir wissen beide nicht, ob wir lachen oder weinen sollen.  

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false