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Die Fischerei in der Lagune ist für viele Bewohner Venedigs existenziell wichtig.

© Kairos Verleih

„Welcome Venice“ im Kino: Wie das Leben aus der Lagunenstadt flieht

Der Regisseur Andrea Segre hat sich einen Namen als Chronist von Venedig gemacht. Im Familiendrama „Welcome Venice“ beschreibt er die Konflikte seiner Heimatstadt, die vom Tourismus zerrissen ist.

Mitte der 1960er Jahre gründeten die venezianischen Liedermacher Gualtiero Bertelli und Luisa Ronchini das Ensemble Canzoniere Popolare del Veneto, das sich um das folkloristische Liedgut der Lagunenstadt verdient gemacht hat.

Vor allem Ronchini betrieb in den ersten Jahren intensive Recherchen nach musikalischen Traditionen im Umland, Bertelli hingegen sang über die Lebensumstände in Venedig und dem Festland um Mestre.

„Welcome Venice“ von dem italienischen Regisseur Andrea Segre beginnt mit einer Familienfeier am Ende der Pandemie. Eine Fischerfamilie auf Giudecca, einer Inselgruppe südlich der Altstadt von Venedig, feiert Geburtstag, die Stimmung ist ausgelassen.

Der Enkel von Piero, dem mittleren von drei Söhnen der Familie, singt das versöhnlichste und deshalb wohl auch bekannteste Lied Gualtiero Bertellis über eine verflossene Liebe. Von da an geht es mit der Familieneintracht allmählich bergab.

Die beiden älteren Brüder Toni und Piero leben vom Krabbenfang in den Gewässern der Lagune. Toni ist seit dem Tod des Vaters die Autorität, zumal Piero einige Jahre zuvor nach einem Einbruch im Gefängnis war. Wieder in Freiheit haben ihm sein Bruder und die Fischerei das Leben gerettet. Der Jüngste, Alvise, ist als einziger der drei Brüder schon vor Jahren aufs Festland gezogen und lebt davon, Ferienwohnungen an Touristen zu vermieten.

Als Toni, der älteste Bruder, an einem Blitzeinschlag stirbt, wittert Alvise seine Chance, Tonis Witwe und Piero ihre Anteile am Haus der Familie auf Giudecca mit Hilfe seines Schwiegersohns abzukaufen. Er will die Immobilie in ein Luxusdomizil verwandeln. Doch Piero weigert sich. Mit diesem Familienkonflikt umreißt Segre ein Grundproblem vieler touristischer Städte: Je attraktiver ein Ort für Touristen ist, desto weniger Alltagsleben findet in ihm statt.

Am Ende kommen die Touristen

Andrea Segre dürfte der international verkannteste Regisseur und Produzent des gegenwärtigen italienischen Kinos sein. Bekannt wurde er Ende der 2000er Jahre mit Dokumentarfilmen. Für „Come un uomo sulla terra“ von 2008 filmte der äthiopische Jurastudent Dagmawi Yimer seine Flucht nach Italien.

Segre machte aus diesen Ausnahmen gemeinsam mit Yimer einen Film über den Pakt, den Europa mit Libyen, damals noch unter Gaddafi, geschlossen hatte, um Flüchtende mit allen Mitteln an der Überfahrt nach Europa zu hindern.

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Sein bislang bester Film „L’ordine delle cose“ („Die Ordnung der Dinge“) von 2017 begleitet einen Beamten des italienischen Innenministeriums, der sich auf die Bekämpfung von Migration spezialisiert hat. Vor allem aber hat sich Segre einen Namen als Chronist seiner Stadt gemacht: 2020 dokumentierte er in „Moleküle der Erinnerung“ Venedig im Lockdown: die leeren Kanäle, die Sorgen der Bevölkerung nach der Doppelkatastrophe Flut und Pandemie.

Anhand der Brüder Piero und Alvise entrollt Segre, der in Dolo, unweit von Venedig auf dem Festland, geboren wurde, in „Welcome Venice“ den Konflikt zwischen den Bewohnern der Inseln in der Lagune und einer Tourismusindustrie, die jede Form von Lokalkolorit lediglich als Vermarktungsstrategie versteht.

Ihm gelingt die Balance, die Interessenskonflikte als Familiengeschichte zu erzählen, ohne in allzu pauschalen, selbstgerechten Sozialrealismus à la Ken Loach abzurutschen.

Wie schon „Moleküle der Erinnerung“ ruft auch „Welcome Venice“ in Erinnerung, dass die Lagunenstadt nicht nur Film- und Postkartenkulisse ist, sondern für eine – stetig schrumpfende – Zahl von Menschen vor allem ein Stück Heimat bedeutet.

„Bring dich in Sicherheit vor der Kälte, der Feuchtigkeit, den nassen Wänden, dem kalten Bett, geh in die Ferne, weg von hier, such dir ein Zuhause, Bequemlichkeit“, hieß es schon in den frühen 1970er Jahren in einem Lied von Canzoniere-Popolare-Mitglied Alberto D’Amico. Man sollte sich an diese „Warnung“ erinnern, wenn man das nächste Mal im Vaporetto am Hilton auf Giudecca vorbeituckert.

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