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Serhij Zhadan auf dem Charkiwer Maidan, Dezember 2013

© Yuriy Gurzhy

Ukrainisches Kriegstagebuch (181): 25.11.23

Der ukrainische Autor, DJ und Musiker Yuriy Gurzhy lebt seit 1995 in Berlin. Hier schreibt er über den Krieg in der Ukraine.

Eine Kolumne von Yuriy Gurzhy

25.11.23

Mein ukrainischer Facebook-Feed war äußerst aufgewühlt, das konnte ich deutlich anhand der Vielzahl aufgeregter Beiträge spüren. Kurz zuvor hieß es, dass das ukrainische Ministerkabinett den Vorbereitungsprozess zur Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens mit der Europäischen Union aussetzen würde. Es schien eine spontane Kundgebung in Kiew zu geben.

Am 21. November 2013 schrieb der Journalist und Aktivist Mustafa Najjem: "Zieht euch warm an, bringt Tee, Kaffee und gute Laune mit und lasst uns um 22:30 Uhr am Unabhängigkeitsdenkmal treffen." Er bat seine Follower darum, seinen Aufruf über Social Media zu verbreiten.

Niemand war nicht beteiligt

Fast exakt zehn Jahre nach dem Auftakt der Orangenen Revolution gingen die Ukrainer*innen erneut auf die Straße. In den darauffolgenden Wochen führte ich täglich Gespräche mit meinen Freunden und las ununterbrochen ihre Meldungen auf Facebook und Twitter. Es schien, als wäre keiner von ihnen nicht beteiligt gewesen.

Hunderttausende Menschen versammelten sich in diesen kalten Tagen auf dem Kiewer Maidan. Ukrainer und Russen, Krimtataren und Juden, Aserbaidschaner und Armenier - dem Aufruf des Afghano-Ukrainers Najjem folgten Vertreter*innen wahrscheinlich aller in der Ukraine lebenden Nationalitäten. Umso mehr war ich über gelegentliche Kommentare erstaunt, die den Maidan als eine Nazibewegung dargestellt haben. Es fiel mir auf, dass solche Diskreditierungsversuche häufig aus Russland kamen und die Kritik dieser „Expert*innen“ wirkte weder begründet noch kompetent.

Während der Winterferien hatte ich geplant, mit meiner Familie nach Charkiw zu fliegen, um Silvester und Weihnachten mit den Schwiegereltern zu verbringen, die ihren neunjährigen Enkel vermissten. Ich freute mich darauf, Dutzende meiner Freunde wiederzusehen. Zusätzlich war jeder Trip in die Ukraine für mich auch eine Gelegenheit, Musik für meine DJ-Sets zu entdecken und mitzubringen, also war es in gewisser Weise auch eine berufliche Reise für mich.

Woodstock-Atmosphäre

In diesen zwei Wochen verspürte ich stark den Drang, einen Abstecher nach Kiew zu machen, um an den Protesten persönlich teilzunehmen. Gelegentlich erinnerten mich die Berichte aus der Hauptstadt an die Atmosphäre von Woodstock. Die angesagtesten Bands und DJs des Landes traten dort auf, und wenn sie nicht auf der Bühne standen, waren sie Teil der protestierenden Menschenmenge. Ein Klassenkamerad aus Charkiw erzählte, dass er seine Mütze im Zug nach Kiew vergessen hatte - und innerhalb weniger Minuten auf dem Maidan eine neue geschenkt bekam.

Jedoch Proteste gab es auch in meiner Heimatstadt, allerdings sahen sie etwas anders aus als in Kiew, wie ich schon am ersten Abend meines Besuchs feststellte. Hier versammelten sich die Menschen ab 18 Uhr vor dem Taras Schewtschenko-Denkmal und diese täglichen Aktionen waren keineswegs so zahlreich und "woodstock-ig" wie in Kiew. Genau deswegen habe ich damals die Entscheidung getroffen, in Charkiw zu bleiben, um meine Freunde und ihren Kampf zu unterstützen.

Es fällt mir heute schwer zu realisieren, dass diese Ereignisse nicht gestern, sondern bereits vor einem Jahrzehnt stattgefunden haben. Am 21. November feiert die Ukraine den Tag der Würde und Freiheit - zwei Begriffe, die für die meisten Ukrainer eine tiefgreifende, ganz konkrete Bedeutung haben. Für Würde und Freiheit standen sie auf dem Maidan ein - und auch heute müssen sie leider für diese Werte kämpfen.

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