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U-Bahnstation als Schutzraum in Kyiv.

© REUTERS/ALINA SMUTKO

Ukrainisches Kriegstagebuch (139): Übernachten in der Badewanne, Spendenaufrufe auf Instagram

Der ukrainische Autor, DJ und Musiker Yuriy Gurzhy lebt seit 1995 in Berlin. Hier schreibt er über den Krieg in der Ukraine.

Eine Kolumne von Yuriy Gurzhy

31.5.2023
Gut orientieren konnte ich mich noch nie. Die Erfindung von Google Maps hat mein Leben zwar wesentlich einfacher gemacht, aber selbst damit klappt's nicht immer. Wie zum Beispiel jetzt, wo ich mich in Leipzig auf dem Weg zur Theaterprobe befinde und versuche herauszufinden, wo die richtige Tramhaltestelle ist. Und dann erkenne ich sie endlich und zwar an der Straßenbahn, die direkt vor meiner Nase abfährt. Auf die nächste muss ich nun 15 Minuten warten. Gut, dass ich direkt daneben ein Buchantiquariat sehe. So wird die Viertelstunde für mich schnell vergehen.

Vor der Tür steht eine Kiste mit den 1-Euro-Platten, damit bin ich ganz schnell durch – ein bisschen Schlager und die üblichen Verdächtigen: James Last, Karel Gott und Ivan Rebroff. Ich gehe hinein und finde mich in einem geräumigen Zimmer mit Bücherregalen wieder, die sorgfältig nach Themen geordnet sind.

Die Sozialen Medien sind voller Kriegserfahrungen

Belletristik geradeaus, Esoterik und Judentum rechts, Zweiter Weltkrieg links. Dort nimmt sich ein junger Mann mit der Brille gerade ein Buch und geht damit zur Kasse. Ist er Student oder einfach an Geschichte interessiert, frage ich mich? Das Regal ist mit zahlreichen deutschen und einigen englischen Bändern gefüllt, von denen manche älter sind und andere kürzlich veröffentlicht wurden.

Offensichtlich bleibt der Zweite Weltkrieg nach wie vor ein Thema, das auf großes Interesse der Leser*innen stößt – auch 78 Jahre nach seinem Ende tauchen regelmäßig neue Informationen auf und werden bis jetzt unbekannte Dokumente enthüllt. Er inspiriert weiterhin Autoren*innen aus verschiedenen Ländern. Ich entdecke hier einen Thriller, verfasst vom Drehbuchautor von „Game Of Thrones“, der die Abenteuer in dem von den Deutschen eingekesselten Leningrad beschreibt. Daneben steht ein Buch aus dem Jahr 1957 mit dem Titel „The Best Short Stories Of World War II: An American Anthology“.

Ich bin mir sicher, die Geschichten des Krieges, den meine Heimat gerade durchlebt, werden auch noch Jahrzehnte später erzählt werden, sowohl von den direkt Betroffenen als auch von jenen, die noch gar nicht geboren sind. Tausende, Millionen von Geschichten – nicht nur Bücher, es wird auch Filme, Serien, Theaterstücke und Musicals geben. Heute folgt man ihnen in jedem erdenklichen Format – von den Nachrichten in den Zeitungen und im Fernsehen bis zu TikToks und Instagram-Storys, die maximal 15 Sekunden lang und nur 24 Stunden abrufbar sind.

In den letzten Wochen wurde Kiew fast jede Nacht angegriffen. Wenn ich aufwache, schaue ich die Storys von den Hauptstadtbewohner*innen unter meinen Insta-Freund*innen an – sie zeigen, wer und wo heute nicht geschlafen hat. Manche gingen in die U-Bahn, um die Bombardierung abzuwarten, andere blieben in ihren Wohnungen, haben aber die Matratze in den Flur rübergeschleppt, wo es angeblich sicherer ist. Eine Künstlerin zeigt ihre Skizzen, die sie mitten in der Nacht im Keller während des Angriffs zeichnete. Ein junger Rapper postet ein Selfie aus der Badewanne, wo er heute geschlafen und dabei „nix gehört und sich safe gefühlt“ hat.

In der jüngsten Story von Serhij Zhadan können seine Follower*innen ihn neben einem neuen Auto sehen. Solche Bilder erscheinen auf seinem Profil als Berichte über seine Ausgaben, denn bei jeder Lesung, bei jedem Konzert werden Spenden gesammelt, um davon die ukrainischen Streitkräfte zu unterstützen. In den vergangenen Monaten ist es der 187. Wagen, der von Zhadan und seinen Helfern gekauft und gerade an die Front geschickt wurde.

In den Storys einer Freundin sehe ich ein Video, in dem drei junge ukrainische Soldaten erklären, warum ihre Einheit dringend ein Anti-Drohnen-Gewehr braucht. Sie rufen am Ende zum Spenden auf. Die nächste Story ist ein Screenshot einer Telegram-Nachricht: „Danke Dir fürs Teilen, mach’s bitte nochmal, wenn’s geht, leider noch nicht genug Geld geflossen. Zwei von den drei Jungs aus dem Video leben nicht mehr“.

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