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Kultur: Triumph der Trance

Ein Jahrzehnt „Murx“: Ein Jubiläum der Volksbühne, ein Sinnstück Berlins, ein europäisches Endspiel

Wie ein Märchen aus uralter Zeit: Eines Abends sind wir in den Osten gefahren (doch, damals fuhr man noch in den Osten) und haben ein gar merkwürdiges Stück im Theater gesehen, das gar kein richtiges Theaterstück war und uns doch oder deswegen aufs Allermerkwürdigste amüsierte. Da hockten traurige Gestalten an trostlosen Tischen, summten und brummten, dösten und fläzten sich enervierend– und dann und wann kam nicht der weiße Elefant von Rilke, aber ein schmutziger Witz (Backen ohne Mehl, ein Evergreen!). Nichts viel mehr geschah...

Der 16. Januar 1993. Vor zehn Jahren hatte an der Volksbühne dieses Unding Premiere, ein Findling des Berliner, des deutschsprachigen, ja des Welt-Theaters: „Murx den Europäer! Murx ihn! Murx ihn! Murx ihn! Murx ihn ab!“ So hieß das. Den Regisseur Christoph Marthaler kannten damals erst wenige, und noch viel weniger bekannt (und tief vergessen) war der Namensgeber Paul Scheerbart, der 1915 in Berlin gestorbene literarische Fantast und Schwerenöter, aus dessen „Indianerlied“ dieser endlose schöne Theater-Titel stammt. Heute Abend findet nun die 169. Vorstellung in nahezu unveränderter Originalbesetzung statt – und „Murx“ ist lange schon ein kultisches Ereignis, wie vielleicht nur Heiner Müllers unaufhaltsamer „Arturo Ui“ am Berliner Ensemble. Wie auch Frank Castorfs Volksbühne als Gesamtkunstwerk: enigmatisch, praktisch, unersetzlich.

Ein trauriges Stück. Ein komisches Stück: ein Schwamm. Was hat dies „Murx“ nicht alles aufgesogen, aufgehoben! Ein Jahrzehnt Volksbühne, mit Castorf, Kresnik, Schlingensief und Marthaler, dessen Karriere am Rosa-Luxemburg-Platz eine Initialzündung empfing; inzwischen leitet er das Zürcher Schauspielhaus. Die lähmenden Jahre der Großen Berliner Koalition, die im westlichen Milieu noch einmal vierzig Jahre DDR spiegelten und gleichfalls mit einem wirtschaftlichen Zusammenbruch und Offenbarungseid nach dem Bankenskandal endeten – das steckt in „Murx“ ebenso drin wie nunmehr ein Jahr rot-roter Senat. Bewegung im Stillstand. Verharren im Hier und Jetzt, das stets auch das Gestern ist, in Berlin. Plötzlicher Aufbruch aus somnambuler Grundstimmung und Rückfall in den Mustopf: Marthalers Protagonisten machen’s unnachahmlich vor. Er hat die alten Mimen des Hauses reanimiert – Susanne Düllmann, Klaus Mertens, Winfried Wagner – und mit den (damals) neuen, jungen Gesichtern einer Olivia Grigoli und eines Bruno Cathomas zu einem Ensemble verschmolzen, das mit „Murx“ ans Tor der Unsterblichkeit anklopft.

I was so much older then/I’m younger than that now, wie Bob Dylan singt. Das passt. Damals waren wir viel älter als jetzt: Das ist das „Murx“-Gefühl, die „Murx“-Message. Sie hat überallhin den morbid-mobilen Mythos Berlin exportiert: eine gefeierte Inszenierung auf Gastspielen in Russland, Polen, England, Frankreich, Spanien, (Ex-)Jugoslawien, Argentinien und Brasilien. „Murx“ spricht eine musikalische Weltsprache. Natürlich wurde „Murx“ 1993 auch zum Berliner Theatertreffen eingeladen und die Volksbühne zum „Theater des Jahres“ gewählt.

Intendant Frank Castorf hat seinen Schweizer Freund Christoph Marthaler, bei dem er jetzt gerade O`Neills „Trauer muss Elektra tragen“ inszeniert, einen „wirklich letzten großen Autonomen“ genannt: „Weil er seinen eigenen Rhythmus hat und weil die Moden an ihm vorbeigehen.“ Freilich, das Marthaler-Theater wurde in der Folge selbst zur Mode. Marthaler gehört – mit Frank Castorf und Robert Wilson – zu den Regisseuren, denen es auf den letzten Etappen des 20. Jahrhunderts wider Erwarten gelang, Theatergeschichte zu schreiben.

Der große, kahle Raum, die Uhr auf der Wand und der Wider-Spruch: „Damit die Zeit nicht stehen bleibt.“ Herabfallende Buchstaben. Ost-Mief, der zum Ost-Duft wurde. Das viel zitierte „Auferstanden aus Ruinen“ (man könnte auch sagen: Sitzen geblieben in Ruinen!) ward nie schlagender empfunden als in Anna Viebrocks „Murx“-Bau. „Murx“ war wahrscheinlich die erste gesamtberliner Theateraufführung überhaupt. Alles ändert sich. Alles bleibt beim Alten.

Mehr noch: Marthalers „Murx“, diese wollüstig-qualvolle Meditation mit onanistischer Tendenz, entwickelte sich heimlich zum Berliner Sinn-Stück schlechthin. Weil dieses Theater den Untergrund beackert, auf dem hier die neuen Bauten stehen – die Metropole. Schäbige Klamotten, heruntergekommenes Ambiente: Auch das gehört zur Hauptstadt. In „Murx“ wird Berlin immer Baustelle bleiben. Wartesaal. Schlafsaal. Armenhaus. Anarchisches Nest. Die Avantgarde gehorcht einer seltsamen Dialektik, wie beim Roulette: Nichts geht mehr. Und zuletzt alles nochmal auf Rot gesetzt. Marthalers Arbeit wirkt in Berlin wie eine Ruhezone. Hier darf man sich nach Herzenslust langweilen und ausschlafen, während draußen immerzu die Post abgeht.

Ein Jahrzehnt „Murx“, Murks. Monotonie. Darin liegt ein leider eindeutiger kulturpolitischer Befund. Was hat sich seit 1993 getan? Die Zahl der Kultursenatoren, die Berlin seither verschlissen hat, ist an einer Hand nicht abzuzählen. Ein halbes Jahr nach der „Murx“-Premiere liquidierte der Senat das Schiller-Theater, das Wort Opernreform geisterte schon damals in den Köpfen. Ein endloses Endspiel. Im Kreißsaal, in der Morgue, wer weiß das schon so genau.

Zwei Details haben sich in die Netzhaut eingebrannt. Die Ofenklappe auf Anna Viebrocks „Murx“-Bühne, durch die man in das ewige Fegefeuer blickte, in den Abgrund des nationalsozialistischen Völkermords oder doch einfach nur in den legendären Heizungskeller der Volksbühne. Das andere ist jenes ohrwurmige „Danke“-Lied, die Seelenfänger-Hymne, die wir hier und heute zum Jubiläum dokumentieren.

Was sonst soll man sagen zu zehn Jahren „Murx“? Danke, verflucht noch eins. Tausend Dank.

Bis zum 16. Januar 2013.

Erstmal.

Rüdiger Schaper

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