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Bis ins hohe Alter sprach Nicholas Winton (Anthony Hopkins) nicht über die Vergangenheit.

© SquareOne Entertainment/Julie Vrabelova

„One Life“ im Kino: Der britische Oskar Schindler

Anthony Hopkins spielt in „One Life“ den Börsenmakler Nicholas Winton, der kurz vor Kriegsbeginn 669 jüdische Kinder aus Prag vor den Nazis in Sicherheit brachte.

Von Kerstin Decker

Ganz großes Kino, sagen wir manchmal, wenn wir etwas Außerordentliches meinen, auch wenn es nicht auf der Leinwand stattfindet.

Was der Brite Nicholas Winton getan hat, war sicherlich ganz großes Kino, aber hier stockt man schon. Leben zu retten, viele Leben gar, ist viel nüchterner, es scheut diese Bezeichnung.

Doch was, wenn man zum Lebensende tatsächlich unverhofft und auf wunderbarste Weise mit dem konfrontiert wird, was man einst bewirken konnte? Das ist dann wirklich ganz großes Kino.

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Es hat nur einen Haken: Aus dem, was wir manchmal so nennen, wird mitunter auf der Leinwand fast nichts. So auch hier, trotz Anthony Hopkins.

Jeder kennt heute den Namen Oskar Schindler, auch von den „Kindertransporten“ haben die meisten schon gehört. Aber Nicholas Winton?

Dem jungen Londoner Börsenmakler gelang es 1938, nur wenige Wochen nach dem Münchner Abkommen und der Annexion des Sudetenlandes durch Hitler, 669 jüdische Kinder aus Prag zu retten.

Viele waren mit ihren Eltern aus Deutschland und Österreich zunächst ins deutschsprachige, aber nach dem Ersten Weltkrieg zur Tschechoslowakei gehörende Sudetenland geflohen und dann weiter nach Prag.

Rettung schien fast unmöglich und gelang doch gegen eine Welt von Widerständen. Und es wären noch mehr Kinder geworden, hätte der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs nicht die Abfahrt einer großen Gruppe von Mädchen und Jungen im 9. Zug verhindert. Das war der „tschechische Kindertransport“ des Nicholas Winton.

Hopkins, ein Virtuose des Minimalismus

Es ist ohne Zweifel eine Geschichte, die möglichst viele kennen sollten. Aber das Gefühl, dass etwas nicht stimmt, ist früh da. Das liegt auch daran, dass zwischen Rahmenhandlung und den dramatischen Szenen in Prag 1938 ein spürbares Missverhältnis besteht.

Was sind schon die Nöte eines alten Mannes, der sein Arbeitszimmer aufräumen soll (braucht er das überhaupt noch?), gegen das, was er damals unternahm?

Der junge Nicholas Winton wird gespielt von Johnny Flynn.
Der junge Nicholas Winton wird gespielt von Johnny Flynn.

© Julie Vrabelova

Natürlich ist es sehenswert, Anthony Hopkins bei seiner anfänglichen Verweigerung zuzusehen. Hopkins ist ein Virtuose des Minimalismus, auch diesmal.

Leider weiß Regisseur James Hawes damit so gar nichts anzufangen; oder er glaubte, was er zu viel macht, wird Hopkins schon herunterkühlen. Und dann diese Musik!

Filmmusik ist idealerweise ein Mitspieler – ein unsichtbarer, aber umso mächtigerer Akteur. Aber wie sie sich hier als Beauftragte für Tragik und Bedeutung wie ein akustisches Dressing über die Szenen legt, ist tendenziell unerträglich, besonders in den Prag-Szenen.

Dabei hatte Komponist Volker Bertelmann zuletzt für „Im Westen nichts Neues“ sogar den Oscar gewonnen.

Die Wintons hießen ursprünglich Wertheim

Es liegt in der Natur des Geschehens, dass es in „One Life“ nicht um Individuen gehen kann, dass die Kinder und ihre Eltern kaum aus dem Gruppenschicksal heraustreten.

Das war schon in „Schindlers Liste“ nicht anders. Doch auch der junge Nicholas Winton macht keine Entwicklung durch wie Oskar Schindler, mit dem man ihn immer wieder verglichen hat – sehr zu seinem Missfallen übrigens.

Winton kommt als Retter, und er wird alle Schwierigkeiten überwinden. So viel ist bekannt. Aber solche übermenschliche Energie allein trägt keinen Film, obwohl man bald um ihre Ursprünge weiß: Wintons Familie ist 1907 aus Deutschland nach England ausgewandert, damals hieß sie noch Wertheim.

Der Name legt ihre jüdische Herkunft nahe, auch wenn sie zuvor schon zum Christentum übergetreten war.

Dramatische Szenen am Prager Bahnhof. Winton rettet mit seinen Kindertransporten 669 jüdische Geflüchtete.
Dramatische Szenen am Prager Bahnhof. Winton rettet mit seinen Kindertransporten 669 jüdische Geflüchtete.

© SquareOne Entertainment/Peter Mountain

Trotzdem weiß der junge Mann, dass er genauso gut an der Stelle der anderen sein könnte. Johnny Flynn gibt als junger Nicholas seiner Figur alles, doch gegen die Dramaturgie von „One Life“ hat er so wenig eine Chance wie Anthony Hopkins, der Arbeitszimmeraufräumer.

Im untersten Fach seines Schreibtischs liegt eine Ledertasche, die er einfach nicht mit den anderen Zeugnissen seines Lebens dem Feuer im Garten übergeben kann.

Sie enthält ein Album mit Kindergesichtern und Namen, manche sind durchgestrichen, andere nicht. Die Durchgestrichenen konnte er retten. Der alte Nicholas sucht jemanden, der dieses Album in Ehren hält – und die Geschichten dahinter. Eine Stiftung vielleicht.

Später Ruhm durch eine Fernsehshow

Von hier an wird es wirklich unerträglich. Die BBC-Show „That’s Life!“ erfährt von seiner Geschichte, lädt ihn als stummen Zeugen ein und dazu einen Überraschungsgast: eine Frau, die damals als Mädchen in einem der neun Züge saß. Umarmungen, Tränen vor laufender Fernsehkamera. Großes Gefühlskino.

Auch wenn es die Show tatsächlich gab: Im Film nachinszeniert stürzt sie ihn endgültig ins unrettbar Sentimentale. Nicholas Winton hat nie über die Prager Monate gesprochen, erst 1988 fand seine Frau das Album auf dem Dachboden und machte es öffentlich; möglicherweise sogar gegen seinen Willen. Keiner der Geretteten kannte zuvor seinen Namen, sie hatten an die Hilfe des Roten Kreuzes geglaubt.

Nach 2000 starteten tschechische Schulkinder eine Nobelpreis-Petition für Winton, er war über die Jahre viermal nominiert.

Und 2002 drehte der slowakische Filmemacher Matej Mináč den Dokumentarfilm „The Power of Good“, dem 2011 ein weiterer folgte, in denen Winton noch selbst zu erleben ist. Er starb 2015 im Alter von 106 Jahren.

Es ist traurig, grotesk und geschichtsverzerrend, dass beim britischen Filmstart von „One Life“ im Dezember anfangs nicht erwähnt wurde, dass es jüdische Kinder waren, die Nicholas Winton rettete; stattdessen war die Rede von „Kindern aus Mitteleuropa“. Man befürchtete angesichts des Gaza-Kriegs Boykottaufrufe.  

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