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Unantastbar: Das Grundgesetz wird 60

"Dat ham wir uns so nich vorjestellt": Christian Bommarius feiert das Grundgesetz, bei dem so einiges anders kam, als es sich die Bonner Parteien erhofft hatten. Doch die Freiheitsrechte sieht der Autor mehr und mehr in Gefahr.

Es lebe das Grundgesetz! Dass es schon 60 Jahre wird und sogar Bonn überlebt hat, haben ihm einige seiner Väter im Parlamentarischen Rat weder zugetraut noch gewünscht: Es war als Provisorium bis zur wiedererlangten Einheit Deutschlands gedacht und sollte dann von einer Verfassung, die auch so heißt, ersetzt werden. Eine der Mütter des Grundgesetzes, die SPD-Abgeordnete Elisabeth Selber, fühlte sich beim Zusammentreten des Parlamentarischen Rates gar an eine „Krematoriumsfeier“ erinnert. Aber es kam anders. Das Provisorium lebt und ist in 60 Jahren mit so viel Leben erfüllt worden, dass es manchen Verfassungspatrioten als Herzstück eines geläuterten Patriotismus gilt.

Was lebt, hat auch eine Biografie, muss sich Christian Bommarius gesagt haben, der seine Geschichte des Grundgesetzes ausdrücklich als Biografie bezeichnet. Den Puls hat er ihm als Korrespondent der Deutschen Presseagentur beim Bundesverfassungsgericht gefühlt. Heute ist der studierte Jurist und Germanist Redakteur der „Berliner Zeitung“ und kritischer Begleiter der Diskussion um Verfassungsänderungen, die er als politische Belagerung des Grundgesetzes durch eine „Kanonade von Sicherheitsgesetzen“ empfindet. Groß sei zwar nach 60 Jahren die Liebe der Deutschen zum Grundgesetz und seinem Hüter, dem Bundesverfassungsgericht – „aber offenbar nicht groß genug, ihm und seinem Hüter in schwerster Bedrängnis zu Hilfe zu eilen. Aber zumindest ein wenig mehr Verständnis könnten beide von ihnen erwarten.“ Sein Buch will dazu beitragen.

Adenauer beklagte, das Gericht habe sich zum Hüter des Gesetzes berufen

Verständnis weckt es vor allem für die „kopernikanische Wende“ im Staatsverständnis der Deutschen, nämlich Menschenwürde und Menschenrecht an die erste Stelle ihres Grundgesetzes zu stellen. Nach der Erfahrung mit Nationalsozialismus und Kommunismus, die den Bürger als Individuum in den Dienst des Staates gestellt hatten, hatte schon der Vorläufer des Parlamentarischen Rates, der Verfassungskonvent von Herrenchiemsee, statuiert: „Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen.“ Dieser Satz sollte auch den ersten Artikel des Grundgesetzes bilden, wenn nicht Theodor Heuss das schlechte Deutsch bemängelt hätte. Der Parlamentarische Rat ersetzte ihn durch die lapidare Erklärung: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“

Das ist nicht nur gutes Deutsch, sondern ein Grund-Satz mit Verfassungsrang. Christian Bommarius versteht ihn als Rechtsgarantie, die für alle drei Gewalten verbindlich und für den Staatsbürger einklagbar ist. Das war nicht selbstverständlich. Denn noch die Verfassung der Weimarer Republik hatte die Grundrechte mit Grundpflichten des Staatsbürgers verknüpft und sie in ihrem zweiten Hauptteil versteckt – ohne die Möglichkeit, sie auf dem Rechtsweg durchzusetzen. Das wurde jetzt möglich, und es hat den Bonner Parteien nicht immer gefallen. Selbst seine Anerkennung als Verfassungsorgan hat sich das Bundesverfassungsgericht gegen die Bundesregierung erkämpfen müssen. Es war ausgerechnet Konrad Adenauer, einst Präsident der Parlamentarischen Versammlung, der ihm diesen Rang 1952 wegen eines Urteils zur Wiederbewaffnung absprach. Auch sein Justizminister Thomas Dehler, wie Adenauer einst Mitglied des Parlamentarischen Rats, wollte den Karlsruher Beschluss „niemals anerkennen“. Adenauer beklagte, das Gericht habe sich zum Hüter von Gesetz und Verfassung berufen, aber „dat ham wir uns so nich vorjestellt“.

Der Präventionsstaat ist ein Anschlag auf das Grundgesetz

Doch obwohl er sich 1953 schließlich genötigt sah, die Rechtsstellung des Verfassungsgerichts anzuerkennen, hielt er es noch zehn Jahre später für möglich, sich über das ZDF-Urteil aus Karlsruhe einfach hinwegzusetzen: „Also das Kabinett hat gestern beschlossen“, erklärte er vor Journalisten, „dat Urteil ist falsch.“ Wieder zehn Jahre später erklang es aus der SPD zum Karlsruher Urteil über die Ostverträge: Man lasse sich „von den acht Arschlöchern in Karlsruhe nicht unsere Ostpolitik kaputt machen“. Beugen mussten sich schließlich alle Regierungen, denn dank des Grundgesetzes besitzt das Bundesverfassungsgericht das Recht zur Normenkontrolle und – eine weitere Neuerung von 1949 – jeder Bürger das Recht, darauf zu klagen.

Das gilt, wie das Bundesverfassungsgericht in seinem berühmten „Lüth“-Urteil feststellte, auch für die Normen des Bürgerlichen Gesetzbuchs – was selbst im Parlamentarischen Rat noch umstritten war, da man fürchtete, die Gleichstellung der Geschlechter im Grundgesetz könne das patriarchalische Familienrecht des BGB aushebeln. Das war, nach einigen Kompromissen, tatsächlich die Folge – und es war gut so. Der entsprechende Grund-Satz im Grundgesetz lautet schlicht: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt.“ Wie er vom Verfassungsgericht gegen den zögernden Gesetzgeber durchgesetzt wurde, gehört zur Biografie des Grundgesetzes, wie sie Christian Bommarius erzählt. Er verschweigt aber auch nicht, dass das Gericht zuweilen über seinen Verfassungsauftrag hinausging – im Negativen wie mit dem faktischen Verbot der Vermögenssteuer, im Positiven mit seiner „Erfindung“ eines neuen Grundrechts, dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung. „Mit der Erfindung dieses Grundrechts“ meint Bommarius, „hat sich das Bundesverfassungsgericht lange vor dem 11. September 2001, lange vor der Selbsterfindung des Präventionsstaates, die wirksamste Waffe zur Verteidigung des Grundgesetzes geschmiedet.“

Im Präventionsstaat und seinen Sicherheitsgesetzen sieht Bommarius einen lebensbedrohlichen Anschlag auf das Grundgesetz. Mit Lauschangriff, Rasterfahndung und Online-Durchsuchung habe die Bereitschaft des Gesetzgebers dramatisch zugenommen, „zur Vermeidung der Gefahren die Freiheitsrechte der Bürger immer weiter zu beschneiden und das Grundgesetz als nicht mehr zeitgemäß abzutun“. Das gelte es zu verhindern – damit aus der Jubiläums- nicht noch eine Krematoriumsfeier wird.

– Christian Bommarius: Das Grundgesetz. Eine Biographie. Rowohlt Berlin 2009. 288 Seiten, 19,90 Euro.

Hannes Schwenger

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