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Kasse, Erotik, Hunger: Sigismund von Radecki dürfte auch hier entlangflaniert sein für seine Feuilletons, allerdings viele Jahrzehnte vor dieser Aufnahme.

© Imago

Sigismund von Radeckis Berliner Feuilletons: Leckereien vom Automatenbüffett

Im Geist von Karl Kraus, aber auch von Flaneuren wie Walter Benjamin und Felix Hartlaub: Der Berliner Feuilletonist Sigismund von Radecki wird wiederentdeckt.

Wer in den fünfziger Jahren mit knappem Taschengeld und „rororo“-Taschenbüchern die Welt der Literatur erobert hat, erinnert sich unweigerlich an Sigismund von Radecki und sein „ABC des Lachens“, ein geistreiches Anekdotenbuch, das in drei Jahrzehnten 350 000 Mal verkauft wurde. Sein Erfolg, so Hans Dieter Schäfer, der Herausgeber einer neuen Auswahl seiner Feuilletons „Die Stimme der Straße“ (Wallstein Verlag Göttingen 2014, 354 Seiten, 22,90 €), „stempelte Sigismund von Radecki zum Humoristen ab“.

Das wäre eigentlich keine Abwertung, da ja auch Jean Paul, Wilhelm Raabe und Wilhelm Busch oft genug als Humoristen bezeichnet werden. Aber Schäfer hat recht, wenn er den deutschbaltischen Autor und Journalisten darüber hinaus als „einen Schriftsteller von europäischem Rang“ bezeichnet. Das war Radecki nicht nur von seiner Geburt in St. Petersburg und Herkunft aus einer baltischen, mit den österreichischen Radetzkys verwandten Familie, als Weltreisender und zuletzt Schweizer Bürger, sondern auch – als konvertierter Katholik – von seiner abendländischer Gesinnung her.

Ob er, wie seine Freundin Else Lasker-Schüler meinte, „ein genialer baltischer Dichter“ war, kann dahingestellt bleiben. Mit ihr mochte er zwar „Reime reimen auf Chaplin, den Komiker der Komiker“ und empfing auch ihr gereimtes Lob, selbst seine Übersetzungen würden „zu eigener Dichtung“. Aber damit ist seine dichterische Produktion auch erschöpfend beschrieben, denn als Autor hervorgetreten ist er vor allem mit kleiner Prosa, mit Feuilletons und Essays sowie, in der Tat, mit kongenialen Übersetzungen russischer Klassiker von Gogol über Puschkin bis Tschechow. Sein nächster Geistesverwandter, wenn nicht sein Vorbild war Karl Kraus, mit dem er zwei Jahre in Wien fast jeden Abend verbrachte. Die Begegnung mit ihm, schrieb der sonst persönlich zurückhaltende Radecki in seiner einzigen Selbstauskunft, „wurde entscheidend für Radeckis weiteres Leben, welches er, dank ihr, als ein glückliches bezeichnen kann.“

Da alle Zeitungen im NS-Staat gleichgeschaltet gewesen seien, „kam es darauf an, was man schrieb, nicht wo man schrieb“, so Sigismund von Radecki

Umso weniger ist zu verstehen, warum Hans Dieter Schäfer in seiner Auswahl auf Kostproben von Radeckis polemischer Feder verzichtet hat, zum Beispiel auf seine Auseinandersetzung mit Hans Habe oder die Kontroverse mit dem Zürcher „Tages-Anzeiger“ über seine Zeitungsbeiträge im Dritten Reich. Den perfiden Hinweis auf „Nazi-Blätter, für die Sie so getreulich bis Kriegsende geschrieben haben“, beantwortete Radecki sarkastisch und mit Bezug auf Karl Kraus: Da alle Zeitungen im NS-Staat gleichgeschaltet waren, „kam es darauf an, was man schrieb, nicht wo man schrieb“.

Er jedenfalls habe „nie in meinem Leben eine nazistische Zeile“ geschrieben, wie hätte er sonst „mit solchen Vorkämpfern gegen den Nazismus wie Theodor Haecker und Karl Kraus auch nur eine Minute verkehren können, wenn’s anders gewesen wäre?“ Seine Aufsätze aus dieser Zeit seien schon damals auch in Schweizer Blättern gern gedruckt worden – „wo Sie damals Redakteur waren... Sie hätten eigentlich schon zu jener Zeit Radecki verurteilen sollen.“

Das saß, und es verdient zitiert zu werden, wenn man Sigismund von Radeckis Aufsätze aus der Zeit vor und nach 1933 neu druckt. Die 350 Seiten von Schäfers Auswahl enthalten so viele harmlose Petitessen und Reiseimpressionen, dass man auf die eine oder andere für eine Kostprobe seiner polemischen Feder gut und gerne hätte verzichten können. Berliner Leser werden allerdings auf keine einzige Zeile seiner Stimmungsbilder aus der Hauptstadt verzichten wollen. Sie zeigen Sigismund von Radecki auf der Höhe des Berliner Feuilletons, dessen Autoren damals Kurt Tucholsky, Alfred Polgar und Alfred Kerr hießen, der auch Radeckis erstes Gedicht veröffentlichte. Er war aber auch ein Flaneur vom Schlag eines Walter Benjamin oder eines Felix Hartlaub, dessen Skizzen aus dem Berlin der dreißiger Jahre jetzt ebenfalls wiederentdeckt werden. Einige Überschriften mögen verraten, wohin die Reise durch das Berliner Leben geht: „Abenteuer auf der Tauentzien“, „Friedrichstraße“, „Steinerner Frühling“, „Die Lunge von Berlin“. Die berühmte Berliner Luft beschreibt er als „jenes charakteristische Parfüm aus Benzin und Kartoffelsalat, ,Luft’ genannt“, in der Friedrichstraße „heißt es glatt ,Kasse!’, ,fifty-fifty’ oder ,Kommt nicht in Frage’. Hier wirkt das Wort ,Riesenbockwurst’ keineswegs abstoßend, sondern im Gegenteil anregend auf die Magennerven. Ähnlich verhält es sich mit Erotik, Hunger und Liebe werden vom Automatenbüffett bedient.“ Dazwischen flattern die Berliner Spatzen, frech wie Bolle, denn „der reguläre Spatz ist unsagbar frech, ich glaube sogar Atheist“. Jedenfalls in Berlin!

Im Zoo entdeckt Radecki einen Affen „mit gelben Augen, vier Händen und Stirnfalten, als ob er sämtliche Bahnanschlüsse von USA im Kopf hätte“. Poetisch wird es im Tiergarten, der berühmten Lunge von Berlin, wo er den Kuckuck hört, „in dessen Ruf sich Wildnis und Speisezimmer so seltsam vereinen“.

Dort „pfiff in der Baumkrone der Pirol, ein Berliner Pirol, sein überstürztes ...Ich muß telefonieren! ...Ich muß telefonieren! ...Da fiel mir ein, daß auch ich telefonieren mußte.“ Telefoniert wird – dieses Wort ist unbedingt neu zu entdecken! – im „Glasautomat“ genannten Telefonhäuschen.“ Aber genug der Kostproben, entdecken Sie Sigismund von Radecki selbst!

Hannes Schwenger

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