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14.12.2022, Brandenburg, Sieversdorf: Eisblumen sind zum Sonnenaufgang bei minus neun Grad Celsius an einer Scheibe eines Autos zu sehen.

© / dpa/Patrick Pleul

„Kaltstart“ (Folge 3) : Gefrorne Tränen

Dieser Winter macht zu schaffen. Auch bei uns, denn Heizen kostet mehr denn je. Eine gute Gelegenheit, zwischen den Jahren über die Kälte nachzudenken, über eisige Momente im Leben wie in den Künsten.

Eine Kolumne von Christiane Peitz

Architektur sei gefrorene Musik, soll Schopenhauer einmal gesagt haben, vielleicht war es auch Schelling. Mein Vater, selber Architekt, mag den Vergleich. Wohlgeordnete Proportionen hier wie da, eine vollendete Harmonie oder auch eine gezielt gesetzte Dissonanz, mal in Stein mal in Töne gefasst – inzwischen ist das synästhestische Denken ja etwas aus der Mode gekommen.

Für mich ist gefrorene Musik immer Schubert gewesen, die „Winterreise“ mit den Versen von Wilhelm Müller, vor allem das Lied „Gefrorne Tränen“. Das in knappen Akkorden eisig klirrende Klavier, die fröstelnde Stimme, die das eigene Weinen mit Befremden zur Kenntnis nimmt, knappe Abwärtsmotive, löchrige Pausen, letzte Worte, Tropfsteinhöhlengesang - zum Schaudern schön.

Das Lied enthält auch eine tiefe Wahrheit über den Schmerz der Verlassenen, ob es nun eine verlorene Liebe ist oder ein verschollenes, verlorenes Leben. Und über die Trauer, die einem die Sprache verschlägt, bis man sich selber ganz fremd ist.

Schubert unternimmt eine Winterreise ins Innerste, malt eine tönerne Eisblume, mit einer Blütezeit von gut zwei Minuten. Eisblumen haben mich schon als Kind fasziniert, diese winzigen filigranen Gebilde, wenn wir im kalten Winter im halbwegs warmen Auto saßen und die Scheiben anhauchten.

Sie sahen aus wie Farnwedel, schillerten wie Bergkristalle und eröffneten zauberische Welten. Wenn man ihnen nur nahe genug kam, nahm sich ihr Mikrokosmos wie ein Makrokosmos aus, eine verzweigte Flusslandschaft, das Mekong-Delta in zartem Schneeweiß.

Nur zu nahe durfte man den Rhizomen nicht kommen, dann schmolz der Zauber unter der Wärme des Atems wieder dahin. So wie in Schuberts Lied der Flammenwerfer einer plötzlich glühenden Wut für Tauwetter sorgt. Was sich am Ende nicht nur synästhetisch lesen lässt, es birgt auch die politische Botschaft vom Aufbegehren in restaurativen Zeiten.

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