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Kultur: Fernseher, Sessel, Kühlschrank

Nicht den Fernseher! Nicht den Fernseher!

Nicht den Fernseher! Nicht den Fernseher!, ruft die Mutter aus dem Schlafzimmer, ohne die Tür zu öffnen. Der junge Mann reißt das Kabel aus der Wand, empfiehlt der Frau hinter der Tür, ihn nicht wütend zu machen, und nimmt den Fernseher mit. Ein paar Straßen weiter in Coney Island bekommt Harry Goldfarb ein paar Dollar für den Fernseher seiner Mutter.

Vom Fernseher seiner Mutter bezahlen Harry und sein Freund ihren nächsten Schuss. Aber was soll Sara Goldfarb nun tun? Der Fernseher war ihre Nabelschnur zur Welt. Die allerletzte Verbindung. Jetzt hat Sara Goldfarb bei sich zu Hause einen neuen Gast. Das Nichts. Es sitzt mit ihr am Tisch. Es geht mit ihr schlafen.

So beginnt das. Ein plötzlicher starker Druck auf die Seele, und fast zwei Stunden lang wird Darren Aronofsky diesen Griff nicht aufgeben. Natürlich, er kann ihn lockern. Er kann die Seele sogar atmen lassen zwischendurch. Aber er hat uns in seiner Hand. Und die Atempausen werden kürzer.

Dabei mag es Aronofsky, uns zu unterhalten. "Requiem for a Dream" ist sein zweiter Film nach "pi", dem vielbeachteten Debüt. Seine Kamera kann sehr schnell sein, sie kennt alle Positionen, aus der man Menschen zeigen kann, und probiert sie lieber einmal zuviel als einmal zu wenig. Clips liebt Aronofsky auch. Oder Comics. Comics sind gut. Jedesmal, wenn sich Harry und Tyrone einen neuen Schuss setzen, sieht das sehr lustig aus. Bis die Pupille - plupp! - plötzlich ganz groß wird.

Außerdem, das muss man sagen, bekommt Sara Goldfarb ihren Fernseher zurück. Ihre Welt hat jetzt wieder die gewohnten Maße: Fernseher - Kühlschrank - Sessel. Keine Kugel, ein Dreieck ist die Sara-Goldfarb-Welt. Und Harry, der Sohn, gehört dazu. Also ein Viereck. Sara Goldfarb liebt Harry Goldfarb. Sie hat recht. Der Junge ist schön, und so wie er mit seiner neuen Freundin Marion geht, hat man selten eine Liebe gesehen. Jared Leto und Jennifer Connelly geben ihr alle Zärtlichkeit und Nervosität des Anfangs.

Aronofksy braucht nur ein paar Bilder, um zu zeigen, was es heißt, alles vor sich zu haben. Er braucht ein paar Bilder mehr, um zu zeigen, was es heißt, alles hinter sich zu haben. Ein kleiner Deal noch, und Harry ist reich. Glaubt Harry. Ein kleiner Deal noch, und er müsste nie mehr Mutters Fernseher verkaufen. Denn den braucht sie jetzt.

Sara Goldfarb wird ins Fernsehen eingeladen. In ihre Lieblingsquiz-Show! Sie könnte das rote Kleid anziehen, das sie zum letzten Mal bei Harrys Schulabschluss trug. Wenn sie ab sofort seltener zum Kühlschrank geht. Und wie ihre Freundinnen sie jetzt anschauen - ganz anders als sonst. Als ob sie, Sara Goldfarb (schonungslos: Ellen Burstyn), wichtig wäre. Sara Goldfarb erfährt, was sie längst vergessen hatte: wie es ist, wenn man lebt. Am liebsten würde sie nie mehr damit aufhören. Es gibt doch ein Leben nach dem Tod. Nur, was kommt dann?

Dass auf dem Höhepunkt des Glücks das Unglück schon begonnen hat - "Requiem for a Dream", entstanden nach dem Roman von Hubert Selby Jr. ("Last Exit to Brooklyn" ), ist eine besonders unbarmherzige Variation auf diese alte Einsicht. Die Kühleren würden ihn vielleicht als gelungenen Anti-Sucht-Film preisen. Hier, seht, wohin Fernsehen und Rauschgift uns führen! Aber das ist nicht seine Ebene, es ist nur eine seiner Wirkungen. Aronofskys Blick ist metaphysischer und profaner, allgemeiner zugleich. Ihn interessieren die Erniedrigungen, die Menschen Menschen zufügen können - und vor allem: diese sich selbst. Dass es hier keine Grenzen gibt, ist vielleicht die verstörendste Erfahrung dieser zwei Stunden. So klein, so ausgeliefert sollen wir sein? Es ist ein Staubkörner-Blick auf Menschen. Wie verwehbar sie sind.

"Requiem for a Dream" ist ein Trip, was sonst? Und wie jeder Trip nur scheinbar eine Zeiterfahrung - denn seine Sache ist die Stillstellung, die Entmächtigung der Zeit. Übrig bleibt der Raum. Ein hermetisch abgedichteter Innenraum. Der Sucht-Raum. Notausgänge sind nicht vorgesehen.

Die geweitete Pupille - vielleicht ist das die Grundkameraeinstellung von "Requiem for a Dream". Bei aller Beweglichkeit unbewegt. Ein Auge ohne Lidschlag. Ungeschützt gegen die Überdosis Licht. Unfähig wegzusehen, außerstande zur erlösenden Pause.

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