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Kultur: Der Wutbläser

Im Jazz entdeckte er eine Gegenwelt zum Marschtritt, mit dem er in der NS-Zeit aufwuchs. Für den Saxofonisten Heinz Sauer muss gute Musik bis heute Widerstand leisten. Eine Begegnung mit einem jung gebliebenen Veteranen, der jetzt 80 Jahre alt wird.

Erstes Bild: ein großbürgerliches Wohnzimmer in den dreißiger Jahren, das „England-Lied“ aus der Musiktruhe und ein Bube, der im Takt des Lieds begeistert um die Musiktruhe marschiert. Zweites Bild: ein Mann auf der Bühne, großgewachsen und kahl, jungenhaft und cool, Jeans und Kapuzenpullover. Er hebt sein Instrument an die Lippen und spielt einen Ton, einen Hauch, tief unten aus dem Bauch seines Tenorsaxofons, warm, seidig weich und voll. Dann noch einen. Und einen dritten, der die Tonfolge in eine Melodie verwandelt und sich unter dem Druck des Atems plötzlich aufsplittert in messerscharfe Tonfetzen. Die einsame Melancholie der Melodie wird zum Schrei, zum Aufschrei der Wut, des Aufbegehrens. Dann ist die Schärfe verflogen, der Saxofonist hüllt den verwehten Schrei in ein Klanggewand, das ihn wärmt, verwandelt ihn in ein selbstvergessenes, zärtliches Summen, das schließlich verstummt und die Pausen, die Momente der Stille zwischen den Tönen, ihre Geschichte erzählen lässt.

Etwa 75 Jahre liegen zwischen den beiden Bildern, in denen Heinz Sauer zu dem deutschen Musiker wuchs, in dem die Geschichte und die Qualität des deutschen Jazz zusammenfallen. Ob er Anfang der sechziger Jahre an der Seite von Albert Mangelsdorff Deutschland auf die Weltkarte des Jazz setzte, sich im nächsten Jahrzehnt mit seiner Band Voices an eigenen Kompositionen versuchte oder heute mit dem 46 Jahre jüngeren Pianisten Michael Wollny das weite Feld der Duo-Konstellation auslotet. Neugier als Antrieb, die permanente Revolution als Arbeitsweise: Sauer ist sperrig geblieben, sein Maßstab ist die Musik, nicht der Erfolg, nicht das, was ein Publikum möglicherweise hören möchte. Am ersten Weihnachtstag feiert Heinz Sauer, der in Königstein im Taunus lebt, seinen 80. Geburtstag. Er spielt immer weniger Töne, doch an emotionaler Kraft nimmt seine Musik nur zu.

Geboren 1932 in Merseburg in Sachsen-Anhalt, großbürgerliches Elternhaus, der Vater ein hohes Tier in der Chemieindustrie. Als die deutsche Herrlichkeit zertrümmert war, zieht die Familie in die US-Besatzungszone, in die Gegend von Frankfurt. Sauer ist 13 und schwer beeindruckt. „Wir waren autoritär erzogen und entsprechend devot, und da kamen die Amerikaner. Das waren ganz relaxte Typen, die haben uns sehr imponiert.“ Was als kindliche Begeisterung beginnt, nimmt bald schärfere Konturen an. „Das war ein Kampf der Generationen. Dass die Älteren im Krieg Hitler bis zum Schluss die Stange gehalten haben, war uns schon bewusst.“

Daneben entwickelt Sauer musikalische Vorlieben, beginnt Saxofon zu spielen, der Konflikt ist da. „Der Vater war ein ziemlicher Nazi, der mochte nicht, dass ich Jazz machte.“ Übt er eben draußen, auf dem Feld. Die Liebe zum Jazz schmälert das nicht. „Das war tolle Musik. Die Amerikaner, vor allem die Schwarzen, hatten einen Gegner, die haben gegen etwas gespielt, das hat sie stark gemacht.“ 1960 bot ihm Albert Mangelsdorff einen Platz in seinem Quintett an. Das war es dann mit dem Physikstudium – Sauer entschied sich für die Existenz eines Musikers.

Die Perspektiven waren vielversprechend. „Jazz war Jugend, das änderte sich erst mit den Beatles.“ Dazu kam die politische Komponente. „Eigentlich war Jazz eine Protestmusik der Schwarzen. Da haben wir uns mit unserem Protest gegen die Nazigeneration draufgehängt.“ Jetzt hatten auch die jungen Deutschen etwas, wogegen sie anspielen konnten, und nebenbei schufen sie etwas Neues: Im Kontrast zwischen der coolen Eleganz Mangelsdorffs und dem expressiven Cry Sauers entwickelte sich das Albert Mangelsdorff Quintett zu einer Band mit einer eigenen musikalischen Identität und half, einen europäischen Jazz zu begründen.

Es waren unruhige Zeiten, die USA führten einen Krieg in Vietnam, in der ganzen Welt protestierten und demonstrierten Studenten, und Musiker wie Heinz Sauer sahen sich als Teil der Bewegung. „Unbewusst auf jeden Fall. Bewusst weniger. Ich war oft auf Demonstrationen, aber Ho-Ho-Ho Chi Minh schreien, das konnte ich nicht. Ich hatte da immer Märsche oder diese Massenbewegungen bei Hitler im Kopf.“ Bei dieser distanzierten Nähe zu politischen Prozessen ist Sauer geblieben. Einerseits speist sein Interesse an Politik sein Spiel mit Energie, andererseits erfordert seine Musik, mit ihrem hohen Anteil an Improvisation, seine volle Konzentration.

„Ich befasse mich viel mit Politik, und ich möchte emotionale Musik machen. Ich spiele nicht einfach einstudierte Skalen, sondern gehe Risiken ein, und gerade dabei kommt es auf Emotionen an, die sich auf unsere aktuelle Situation beziehen. Das fließt bei mir immer ein. Aber wenn ich irgendetwas spiele, dann denke ich nicht an Hartz IV.“ Möglicherweise ist Sauer mit dieser Haltung mittlerweile zu einem Außenseiter im deutschen Jazz geworden, möglicherweise fehlt der Jazz-Karawane in Deutschland das „Dagegen“ und damit der Maßstab. Möglicherweise hat Heinz Sauer Recht, wenn er diagnostiziert: „Der Jazz heute ist, grob gesagt, zur gehobenen Unterhaltungsmusik mutiert. Genau das ist unser Problem.“ Doch jeder Ton, den er schließlich ins Leben lässt, ist eine Mahnung an die emotionale Kraft dieser Musik und eine Ermutigung.

Stephan Hentz

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