zum Hauptinhalt

Kultur: Der Körper spiegelt den Geist

Das europäische Theater hat eine Stifterfigur verloren, einen Guru, der dem Schauspiel ein neues Ziel zu stecken bestrebt war, indem er es auf seine uralten Grundlagen zurückführte: Jerzy Grotowski ist am Donnerstag in seiner italienischen Wahlheimat, in Pontedera bei Pisa, nach langem Krebsleiden mit 65 Jahren gestorben."Das arme Theater" ist das Stichwort, das sich mit dem Namen des Polen verbindet: Theater, das auf Maschinerie, Staffage, Dekor verzichtet und sich ganz auf den Schauspieler konzentriert.

Das europäische Theater hat eine Stifterfigur verloren, einen Guru, der dem Schauspiel ein neues Ziel zu stecken bestrebt war, indem er es auf seine uralten Grundlagen zurückführte: Jerzy Grotowski ist am Donnerstag in seiner italienischen Wahlheimat, in Pontedera bei Pisa, nach langem Krebsleiden mit 65 Jahren gestorben."Das arme Theater" ist das Stichwort, das sich mit dem Namen des Polen verbindet: Theater, das auf Maschinerie, Staffage, Dekor verzichtet und sich ganz auf den Schauspieler konzentriert.Grotowski hat diese Ästhetik 1968 in seinem auch in Deutschland als Buch erschienenen Programm vom "Armen Theater" formuliert: "Der Akt des Schauspielers - der Halbherzigkeit ausschließt, der entblößend, offenbarend wirkt, der aus ihm herausströmt statt ihn zu verschließen - ist eine Einladung an den Zuschauer.Man könnte diesen Akt mit dem zutiefst empfundenen, wahren Liebesakt zwischen zwei Menschen vergleichen ...Diesen Akt, Paradox und Grenzfall, nennen wir den totalen Akt."

Am 11.August 1933 in Rzeszow geboren, studierte Grotowski an der Schauspielschule in Krakau und am Institut für Theaterkunst in Moskau.Er debütierte als Regisseur 1957 mit Ionescos "Stühlen", zog es jedoch sehr bald vor, sich seine eigenen Szenarien nach literarischen Vorlagen zu schreiben.Das "Theaterlaboratorium der 13 Reihen" in Opole, 1965 nach Wroclaw (Breslau) verlegt, wurde der Ort, an dem er sein visionäres Theater verwirklichen konnte: "Kain" nach Byron, "Die Totenfeier" nach Mickiewicz, "Kordian" nach Slowacki, "Akropolis" nach Wyspianski, "Doktor Faustus" nach Marlowe, "Studie über Hamlet" nach Shakespeare, "Der standhafte Prinz" nach Calderón - die letzteren drei Stücke mit Ryczard Cieslak in der Hauptrolle, dem Darsteller, der die Ideen Grotowskis am eindringlichsten umzusetzen verstand, ehe er Mitte der siebziger Jahre zu Peter Brook an dessen Pariser Zentrum für Theaterforschung wechselte.

Mit Cieslak und dem "Standhaften Prinzen" war Grotowski im Bemühen, sein Theaterideal auch außerhalb seines polnischen Labors bekanntzumachen, im Dezember 1970 ein erstes und wohl auch einziges Mal in Berlin zu Gast: bezeichnenderweise nicht in einem Schauspiel-, sondern in einem Gotteshaus, in der Spandauer St.-Nikolai-Kirche.Theater der Askese für ein Häuflein von achtzig Auserwählten, die ausdrücklich gebeten waren, "keinerlei Gegenstände wie Handtaschen, Operngläser etc." in den Kirchenraum mitzubringen und ihn am Ende "still" zu verlassen.Ein hölzerner Aufbau in der Mitte des Raums, über ein Treppchen zu erklimmen, so daß man in eine große Kiste hinabschaute, bis auf ein niedriges Podest leer: genug zur Darstellung der Grundsituation des geschundenen Menschen, die sich auch dem der polnischen Sprache Unkundigen sofort erschloß.Calderons Tragödie vom Kampf der Christen gegen die Übermacht der Mauren, auf den Kern reduziert: Nachdem ein erster Gefangener von drei gestiefelten, in weiten schwarzen Umhängen steckenden Männern halbnackt auf den Boden geworfen, gequält, entmannt worden ist und sich auf die Seite seiner Peiniger geschlagen hat, beweist ein zweiter Gefangener in derselben Lage, daß der Mensch über sich hinauswachsen, die Grenzen von Leib und Geist gleichsam überschreiten kann.Ryczard Cieslak bot in der Rolle des standhaften Prinzen auf dem Höhepunkt der Qual das Bild des gekreuzigten Christus: den Kopf zur Seite geneigt, die Arme ausgebreitet, den nur mit einem Lendentuch bekleideten Körper in der Mitte geknickt.Das Ziel der Grotowskischen Methode, den Körper bis zur letzten Faser für den Geist transparent werden zu lassen: mit diesem Schauspieler war es erreicht.

Seit dem Mysterienspiel "Apokalypsis cum figuris", Anfang der siebziger Jahre, als Regisseur verstummt, propagierte Jerzy Grotowski doch seine Ideen als Lehrer weiter, zuletzt als Professor für Theater-Anthropologie am Pariser College de France.Theater als Eros und Caritas zugleich: ein Ritual der Selbstfindung für den Schauspieler und damit auch für den Zuschauer.

GÜNTHER GRACK

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false