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Kein Stein mehr auf dem anderen: Die Stadt Antakya ist fast komplett zerstört.

© dpa/-kyodo

Nach dem Erdbeben in der Türkei und Syrien: „In Suppenküchen werden Essen für Tausende gekocht“

Mehr als 50.000 Tote, Millionen unbewohnbarer Häuser: Hier berichtet Mathias Mogge von der Welthungerhilfe über das Ausmaß der Zerstörung und worauf es bei der Hilfe jetzt ankommt.

Herr Mogge, Sie sind soeben aus dem Erdbebengebiet an der türkisch-syrischen Grenze zurückgekehrt. Können Sie wieder ruhig schlafen oder lässt sie das Gesehene nicht mehr los?
Das Ausmaß der Zerstörung ist erschütternd. Ich war einige Tage in Antakya, einer Stadt, in der die Verwüstungen besonders groß sind. Dort steht kein einziges Haus mehr. Alles ist in sich zusammengefallen. Die paar Häuser, die noch stehen, sind voller Risse im Mauerwerk und können nicht mehr betreten werden.

Sie haben mit vielen Überlebenden sprechen können. Was berichten sie über das Ausmaß der Tragödie vor Ort?
Ich habe in Antakya einen älteren Mann getroffen. Der stand weinend vor den Überresten eines dreistöckigen Wohnkomplexes und sagte mir: „Dafür habe ich 30 Jahre lang gearbeitet. Das war meine Rentenversicherung. Jetzt ist alles weg.“

In einem anderen Ort habe ich mit einigen Frauen gesprochen, die an einer psychosozialen Beratung teilnahmen. Eine Frau brach in Tränen aus und sagte: „Wir haben immer andere Menschen unterstützt – jetzt muss ich selbst um Hilfe betteln.“ Auch das war für mich ein sehr emotionaler Moment. Bedrückend sind nicht zuletzt die Lebensverhältnisse der syrischen Geflüchteten, die schon vor dem Beben nichts hatten. Und dann gibt es noch ein großes Thema für die Überlebenden.

Welches Thema ist das?
Viele trauen sich nicht mehr zurück in ihre Häuser. Ein Kollege bei der Welthungerhilfe lebt seit mehr als vier Wochen in seinem Auto, weil er Angst vor Nachbeben hat. Und davon gibt es eine Menge.

Vielerorts sind regelrechte Zeltstädte entstanden, dort kommen die meisten Menschen unter, die obdachlos geworden sind.

© Reuters/Susane Vera

Wo sind die Menschen untergekommen, die kein Obdach mehr haben?
Sie haben Zuflucht in Camps gefunden, die oft kleinen Zeltstädten ähneln. In Antakya steht eigentlich überall ein Zelt, wo das möglich ist. Versorgt werden die Menschen vor allem mithilfe von Suppenküchen. Die Welthungerhilfe betreibt ebenfalls derartige Einrichtungen.

Oft werden dort Tausende Essen am Tag gekocht und verteilt, einfache Gerichte mit Reis oder Bulgur. Das ist für viele die einzige warme Mahlzeit, die sie bekommen. Die Menschen haben keine Öfen, kein Brennmaterial, geschweige denn eine funktionierende Küche.

Ein Kollege lebt seit mehr als vier Wochen in seinem Auto, weil er Angst vor Nachbeben hat.

Mathias Mogge, Welthungerhilfe

Was benötigen die Menschen darüber hinaus?
Außer Nahrung brauchen sie vor allem Hygieneartikel. Es verbreiten sich bereits Hautkrankheiten, weil es viel zu wenig sauberes Wasser gibt. Deshalb ist eine zentrale Aufgabe, die Wasser- und Sanitärversorgung wiederherzustellen.

Wie wird die Hilfe organisiert?
In der Türkei gibt es eine große Katastrophenschutzbehörde. Über sie läuft weitgehend zentralisiert die Versorgung der Überlebenden. Und dort heißt es: Wir haben alles im Griff. Es gibt aber auch Betroffene, die schimpfen und Versäumnisse beklagen. Ob die Hilfe überall gut funktioniert oder woran es hapert, kann ich nach meinem kurzen Besuch nicht beurteilen. Die Welthungerhilfe kommt jedenfalls immer dann ins Spiel, wenn sich Lücken in der Versorgung auftun. Davon gibt es einige.

Zum Beispiel?
Die in der Türkei lebenden syrischen Geflüchteten kommen manchmal zu kurz. Sie sind durch das Erdbeben zum zweiten Mal nach ihrer Flucht auf Hilfe angewiesen.

In den vom Beben betroffenen Gebieten hat der Wiederaufbau begonnen.

© imago/CTK Photo/IMAGO/Pavel Nemecek

Ist unter den gegenwärtigen Bedingungen überhaupt an Wiederaufbau zu denken?
Es ist wichtig, dass bereits in der Nothilfephase der Wiederaufbau mit in den Blick genommen wird. Nur dann kann es gelingen, dass Fehler nicht wiederholt werden und Lehren aus anderen Katastrophen umgesetzt werden. Als Hilfsorganisation können wir dazu nur Vorschläge machen. Am Ende entscheidet die Regierung, ob sie Bauvorschriften erlässt oder soziale Leistungen wie etwa Starthilfen bereitstellt.

Viel wird über das Ausmaß der Zerstörung und des Leids in der Türkei geredet, aber wenig über den Nordwesten Syriens. Wie ist dort die Lage?
Leider konnte ich mir kein eigenes Bild machen. Fest steht aber: Dort kommt immer noch viel zu wenig Unterstützung an. Ganz abgesehen davon, dass in Syrien kein staatlicher Katastrophenschutz existiert, der mit dem türkischen vergleichbar wäre.

Was ist mit den internationalen Hilfsorganisationen?
Für die ist es sehr schwierig, die Menschen zu versorgen. Das liegt zum Beispiel an logistischen Problemen und fehlender Sicherheit. Der Nordwesten Syriens mit der Provinz Idlib wird ja von Aufständischen kontrolliert. Nach zwölf Jahren Bürgerkrieg leidet diese Region schon viel zu lange.

Die Bewohner leben von der Hand in den Mund, die Lage in den Camps ist katastrophal. Das muss sich ändern. Die Menschen brauchen eine Perspektive, die nicht nur auf Nothilfe basiert. Allerdings gebe ich zu: Daran ist derzeit, nachdem das Beben so viel Leid und Zerstörung gebracht hat, nicht zu denken.

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