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Seit vielen Wochen protestieren Hunderttausende Israelis gegen die Justizreform und Premier Netanjahu.

© AFP/JACK GUEZ

Der Oberste Gerichtshof prüft die Justizreform: Droht Israel eine Staatskrise?

Die rechte Regierung will die Befugnisse des höchsten Gerichts einschränken. Nun prüfen die obersten Richter, ob dies ein Verstoß gegen Grundgesetze ist. Drei Experten nehmen Stellung.

Von
  • Emanuel Gross
  • Elmar Esser
  • Amichai Cohen

Es ist ein historischer Tag in der 75-jährigen Geschichte des jüdischen Staats. Am 12. September kommen erstmals alle 15 Mitglieder des Obersten Gerichtshofs Israels zusammen. Der Grund: die höchst umstrittene Justizreform der Regierung unter Premier Benjamin Netanjahu. Die Richter werden sich mit mehreren Petitionen befassen, die gegen das Vorhaben Einspruch erheben.

In unserer Serie „3 auf 1“ erklären drei Expert:innen, was sie davon halten. Alle Folgen von „3 auf 1“ finden Sie hier.


Die rechts-religiöse Koalition hat vor einigen Wochen ein Kernelement der Reform verabschiedet, das dem Obersten Gericht die Möglichkeit nimmt, gegen „unangemessene“ Entscheidungen der Regierung vorzugehen. In Israels Geschichte wurde bisher noch nie ein vergleichbares Grundgesetz vom Obersten Gericht einkassiert. Drei Experten erklären, was passiert, wenn dies geschieht und die Regierung die Entscheidung nicht akzeptiert.

Die Regierung will die Justiz schwächen

Die israelische Regierung strebt keine Justizreform an, sondern eine Schwächung der Justiz. Man will sie als unabhängige Kontrollinstanz des Regierungshandelns ausschalten. Das wäre das Ende der Gewaltenteilung, eines demokratischen Grundprinzips. Das Verfahren vor dem Obersten Gericht betrifft das erste einer Reihe geplanter Gesetze, mit denen die Regierung die von ihr angeprangerte „Übermacht der Richter“ beenden will.

Eine Regierung, die sich weigerte, eine rechtsverbindliche Entscheidung des Obersten Gerichts umzusetzen, stellte sich über die verfassungsmäßige Ordnung. Exekutive und Judikative stünden sich in einem Konflikt über die Verfassung gegenüber. Welche Institution könnte diesen Konflikt lösen? Die israelischen Sicherheitsbehörden haben trotz Drucks der Regierung das Oberste Gericht ihres Respekts versichert. Kontrollierte künftig die Regierung die Wahl der Richter, wäre dies ein dramatischer Eingriff in die Unabhängigkeit des Obersten Gerichts und der Judikative.


Der nächste Schritt wäre die Umwandlung in eine Diktatur

Israel steht vor seiner größten und gefährlichsten Krise seiner verfassungsmäßigen Ordnung. Die gegenwärtige Regierung droht, unser demokratisches System zu verändern. Justizminister Levin hat eine radikale Reform unserer Grundgesetze vorgeschlagen, um die Macht unseres Obersten Gerichtshofs zu beschneiden. Aber der jüdische Staat sollte eigentlich auf einer Balance aus Legislative, Exekutive und Judikative gründen. Doch das ist nicht der Fall. Die Exekutive kontrolliert unser Parlament mithilfe ihrer Koalitionsmehrheit.

In Wirklichkeit haben wir also nur eine das Parlament dominierende Exekutive - und die unabhängige Judikative. Die radikale Reform, die Levin anstrebt, sieht vor, den Obersten Gerichtshof unter die Kontrolle der Regierung zu stellen. Dann gebe es nur noch die Exekutive. Der nächste Schritt würde die Umwandlung der Demokratie in eine Diktatur sein, wie es in Polen und Ungarn geschehen ist. Die meisten Israelis sind gegen die vorgeschlagene Reform, Millionen Menschen protestieren seit sieben Monaten jeden Samstagabend. Ich glaube, die Justizreform wird bald sterben.


Israels Gewaltenteilung ist in Gefahr

Eine Krise der verfassungsmäßigen Grundordnung würde bedeuten, dass die wesentlichen „Spielregeln“ eines Staates infrage gestellt werden, ja, bedroht sind. Im Falle Israels haben Mitglieder der regierenden Koalition bereits angedeutet, dass sie eine Entscheidung des Gerichts möglicherweise nicht akzeptieren würden, wenn die Richter die Änderung der Angemessenheits-Klausel des Grundgesetzes aufheben. Damit wäre die wichtige Kontrolle der Regierungsgewalt durch den Obersten Gerichtshof aufgehoben.

In einem Land ohne Verfassung haben die Grundgesetze in Israel einen quasi verfassungsmäßigen Status, was die Anhörung am 12. September zu einem der wichtigsten Fälle in der Geschichte Israels macht. Sollte die Drohung der Koalition, sich nicht an das Urteil des Gerichtshofs zu halten, tatsächlich wahr werden, wäre das eine Verfassungskrise. In diesem Fall müssten sich die israelischen Institutionen, einschließlich der Streitkräfte, der Polizei und der öffentlichen Verwaltung, entscheiden, ob sie dem Urteil des Gerichts oder den Anordnungen der Regierung folgen wollen.

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