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Ilka-Cordula Felcht

© privat

Nachruf auf Ilka-Cordula Felcht: Eine Nummer drüber

Lehrerin war sie, eigentlich. Das, was sie da tat, ging aber weit darüber hinaus

Keine Überbetreibung: Fast jedes Mal, wenn Ilka mit der U-Bahn fuhr, fand sie einen Menschen, mit dem sie ins Gespräch kam. Wenn sie jemanden spannend fand, lächelte sie und redete los, neugierig, begeistert. Irgendwann kam sie auf ihr Theater zu sprechen, und kurz bevor sie ausstieg, überreichte sie eine Postkarte von ihrem aktuellen Stück. „Kommst du zur Aufführung?“ Auch wenn sie jemanden nach dem Weg fragte, entwickelte sich daraus garantiert eine Unterhaltung. Um den Weg ging es überhaupt nicht, den kannte Ilka schon.

Dass sie Lehrerin wurde, war ein Zugeständnis an ihre Familie, für die sie die Verrückte war, die komisches Zeug machte. Da hatte sie ein sichereres Einkommen, eine geregelte Woche, Ordnung im Chaos. Dass sie Theater unterrichtete, war ein Zugeständnis an sich selbst. Wobei, das, was Ilka da machte, viel mehr war als reiner Unterricht. Es war ihr Leben. Stundenlange Proben und Nachbesprechungen, hunderte von Aufführungen, dutzende Theaterfestivals von Russland bis Brasilien - das war das eine. Das andere waren die Schüler, die Ilka sah, wie sie waren, mit ihren Ängsten und Unsicherheiten, mit ihren Wünschen und Sehnsüchten. Sie rang mit ihnen, forderte sie heraus und gab ihnen Rollen, an denen sie wuchsen.

Der Krieg vertrieb die Familie aus Berlin nach Schwerte. Eine ältere Schwester, jüngere Brüder, der Vater war Amtsarzt. Eine Haushälterin kümmerte sich um das Mittagessen, um die Wäsche. Im Kleiderschrank hing für jeden Wochentag ein anderes Kleid. Eigentlich perfekt, doch Ilka, so erzählte sie es, fühlte sich als Außenseiterin. Ihre Mutter habe so eine Distanziertheit gehabt, so eine Kälte. War Ilka traurig, vertraute sie sich ihrem Hund an. Stritten ihre Eltern, setzte sie sich ihre Kapuze auf und erzählte sich selbst Geschichten. „Mach nicht so ein Theater war ein oft gehörter Satz in meiner Kindheit, denn natürlich war ich ein sensibles und eigenwilliges Kind“, schrieb Ilka.

Bis alle erschöpft waren

Sie konnte mit ihren Geschwistern diskutieren, stundenlang, bis alle erschöpft waren. Später im Lehrerzimmer konnte sie ihre Stimme erheben und sich den Raum nehmen, den sie brauchte. Wenn einer ihrer Schüler sich vom Theaterspielen verabschieden wollte, ließ Ilka ihn nicht einfach gehen. Dann musste er sich erklären, warum, weshalb, wieso, und oft brachte Ilka ihn dazu, doch weiter zu machen.

Ilka studierte in Köln Theaterwissenschaften, ein Semester. Dann vier Jahre in Chicago, Englisch und Drama. Dann wechselte sie an die Freie Universität in Berlin, 1972 war das. In die Bewerbung fürs Studentenwohnheim schrieb sie: „Hobbies habe ich keine, ich habe nur Leidenschaften: Theaterbesuche und anschließende Diskussionen, Filmbesuche und Gedankenaustausch darüber, Schwimmen, Sonnen, Skifahren, Tanzen, klassische Musik, Lyrik und philosophische Literatur. Und Schreiben und Theaterarbeit und Regenspaziergänge. Diese Leidenschaften folgten keiner Hierarchie, sondern den wechselnden Möglichkeiten der Zeit.“ Außerdem war sie bei den „Roten Zellen Anglizistik“, Akademiker, die den Kampf des revolutionären Proletariats unterstützen wollten. Als Ilka sich anschickte, Lehrerin zu werden, tauchten Belege ihrer roten Umtriebe auf, ihr Name auf Wahllisten zum Studentenparlament. Ihr Vater bürgte für sie, das Berufsverbot konnte abgewendet werden. Fürs Referendariat zog sie nach Hagen, und kam als Studienrätin nach Kreuzberg an die Robert-Koch-Oberschule.

„Die Probe begann damit, dass wir mit geschlossenen Augen in uns hineinatmen und wieder ausatmen sollten, Geräusche machen und unsere Kraft aus dem Boden gewinnen“, schreibt einer ihrer Schüler. Es seien fast schon orgiastisch anmutende Zustände gewesen. Dann wild herumlaufen und jede Berührung vermeiden oder im Gegenteil aneinanderkleben, nach Berührung gieren. Improvisation: Zwei, drei Schüler bekamen einen Text, suchten sich Requisiten zusammen und legten los. „Im Theater können und sollen wir uns schonungslos und radikal mit unseren inneren und äußeren Feinden auseinandersetzen und herausfinden, was uns stark macht“, schreibt Ilka. Sie erzählte auch von sich, ihren Ängsten und Kämpfen und Therapien. Berühren und berühren lassen. Laß sie in der Zeitung über das Schlechte in der Welt, weinte sie. Für manche mochte das zu viel gewesen sein, immer eine Nummer drüber. Fürs Theater und die meisten ihrer Schüler war es ganz richtig so.

Dienstagabend fanden die Proben von „Wild Bunch“ statt, Ilkas Theater AG, 1978 gegründet, bei der alle Schüler teilnehmen konnten. Etliche machten dort weiter, als sie längst die Schule verlassen hatten. Manche sind seit über 30 Jahren dabei. Mit Ilka zogen sie von einem Probenort zum nächsten, mit Ilka reisten zu den Festivals, mit Ilka wurden sie älter.

Robby war 13 Jahre jünger als sie und so ziemlich das Gegenteil von ihr: geerdet, ruhig, alltagstauglich. Nach einem Kneipenabend sagte sie zu ihm: „Du, ich will jetzt nicht allein ins Bett gehen.“

Robby tat ihr gut. Durch ihn nahm sie wieder Kontakt zu ihrer Familie auf. Mit ihm konnte sie stundenlang auf ihrem Balkon frühstücken. Wenn sie wiedermal seine Unterstützung brauchte, sagte sie: „Achtung, ich spiele jetzt mal wieder hilflose Person.“

Ein Hämatom auf dem Stimmband zwang Ilka aus dem Schuldienst. Der Stillstand schmerzte, doch zum Glück gab es noch „Wild Bunch“, womit sie einfach weitermachte. Bis irgendetwas nicht stimmte, Ilka nicht mehr im Stoff steckte, irgendwie verloren wirkte. Demenz. Nach drei Jahren Betreuung, Pflege und vielen Arztbesuchen zog sie in ein Altersheim. Robby war an ihrer Seite, ihre Schüler gründeten eine WhatsApp-Gruppe, sprachen sich ab, wer helfen oder besuchen konnte.

Beim allgemeinen Kaffeetrinken im Heim konnte es passieren, dass plötzlich Ilka aufstand und rief: „So, jetzt kommen wir alle mal zusammen, jetzt sind wir alle einmal ruhig und setzen uns hierhin. Wir müssen am Theater arbeiten.“ Als sie gestorben war, sah sie aus, wie ein junges Mädchen im Schlaf.

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