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Harald Naisch

© privat

Nachruf auf Harald Naisch: Nur der Schöpfer und sein Werk

Unordnung um ihn, Ordnung in ihm. Rausgehen und fotografieren, ununterbrochen

Er geht los. Der Weg ist vorgezeichnet, und es wäre nicht verwunderlich, hätten im Lauf der Zeit die Abdrücke seiner Schuhe Spuren im Trottoir hinterlassen. Er geht um zehn Uhr am Vormittag los, jeden Tag, seit 40 Jahren. Er geht in ein und dasselbe Lokal, bestellt ein Croissant und einen Kaffee. Er sitzt, er schaut, er macht hin und wieder ein Foto, von den zerrissenen Teigschichten seines Croissant, der leeren Kaffeetasse, einem eigentümlich gebogenen Zweig, der neben seinen Stuhl geraten ist.

Er ist allein, er möchte allein sein, braucht dazu aber die Gesellschaft der Menschen. Er stellt sich ein künstlerisches Kaffeehausleben vor. Ein Werk schaffen inmitten von Stimmengewirr, Geschäftigkeit. Die Dame mit dem Hündchen, die wie er täglich kommt, der emeritierte Professor in seinem verbeulten Leinenanzug, der schon früh seinen ersten Pernod nimmt, der bettelarme Mann, der eine halb gerauchte Zigarette vom Boden klaubt. Eine Welt von gestern, die Harald Naisch an früher, an Südfrankreich erinnert, wohin er mit dem Schriftsteller Walter Aue reiste. Das Bild von Walter Aue in einem Bistro, ein Bier vor sich, Schreibpapier, einen Stift. Dieses Bild, das zu einem Wunschbild für ihn selbst wurde, frei und schöpferisch, zusammen mit anderen freien und schöpferischen Leuten.

Alles ein bisschen steif, ein bisschen altmodisch

Walter Aue, den er Meister nannte, der für Radiofeatures durch die Welt fuhr, auf der Suche nach der Zeit und ihren Spuren. In Greenwich, wo der Nullmeridian am „Transit House“ markiert ist. In Lacock Abbey, einem Nonnenkloster im Süden Englands, wo William Henry Fox Talbot das Negativ-Positiv-Verfahren für die Fotografie erfand. In Rom, wo Aue alte Scherben sammelte. Harald Naisch dokumentierte die Spurensuche des Meisters. Forderte Aue auf, sich aufzustellen und dieses oder jenes Ding in die Hand zu nehmen, Blick in die Kamera und Foto, fertig. Alles ein bisschen steif, ein bisschen altmodisch. Oder wie ein Kind, das gerade eine Kamera geschenkt bekommen hat.

Aber das war seine Art, auf diese Weise bat er alle Künstler, sich vor ihm aufzubauen, nur der Schöpfer und sein Werk, ganz einfach. Man kann darüber lächeln. Wesentlich jedoch ist, dass Harald Naisch mit dieser Methode etwas für die Kunstgeschichte Einmaliges schuf: die Dokumentation des Wirkens einer avantgardistischen Künstlergeneration um Wolf Kahlen, Raffael Rheinsberg, Fritz Gilow, Leute, die früh mit Videos experimentierten, sich mit Performances und Installationen und Objektkunst beschäftigten.

Harald Naisch selbst bezeichnete sich als Autodidakt. Über seine Familie, seine Kindheit und Jugend gibt es wenig zu erzählen. Weil er nichts dazu sagte, nichts dazu sagen wollte. Wahrscheinlich kam er aus dem Niedersächsischen und hatte eine größere Schwester. Wo ist denn deine Schwester jetzt?, fragte ihn einmal jemand. Seine Antwort, mit abwinkender Hand: Weiß nicht, vielleicht lebt sie noch, vielleicht auch nicht. Ein einziges altes Foto zeigte er her. Darauf er, noch klein, neben der Schwester, um seinen Hals ein Ledertäschchen, in dem man das Pausenbrot für den Kindergarten verstaut. Er steht da, sehr aufrecht, die Arme an die Seiten gepresst, und schaut verlegen in die Kamera. Dieses Verlegene, nicht ganz Freie, diese „Befremdnis zur Welt“, wie ein Freund sagt, blieb. Allein seine Art der Begrüßung: Zunächst ein knappes Nicken, dann die Hand ein wenig ungelenk nach vorn gestreckt, dann ein spröde-höfliches „Tag“. Gleichzeitig war er außerordentlich liebenswürdig.

Früher, vor der Kaffeehauskünstlerzeit, war er Setzer in einer Druckerei gewesen, aber in den Sechzigern hatte in Berlin ein großes Druckereisterben eingesetzt, und Harald Naisch verlor seine Arbeit, vielleicht kam ihm das nicht ungelegen.

Aber wir redeten ihm auch nicht genug zu

Erstes Hantieren in seiner Altberliner Wohnung in Schöneberg mit der Camera obscura, ein winziges Loch in einer dunklen Box, durch das Licht strömt. In dieser Wohnung überall Staub, Schichten von Staub, durch die man mit dem Finger fahren konnte, auf einem Tisch, hinab am Tischbein, auf dem Boden entlang zur Wand, weiter um eine Ecke, wo die Dunkelkammer lag. Staub auf den Regalen, an den Fenstern. Eine zweite, größere Dunkelkammer. Du musst da raus, du erstickst hier, sagte sein Freund. Harald Naisch zog um, in die „Ruine der Künste“ in Dahlem, in eine Souterrainwohnung, die Wolf Kahlen, Betreiber dieses Kunstortes, zuvor komplett renoviert hatte.

Harald Naisch wurde zum Chronisten der Szene. Manchmal erschienen seine Fotos in Katalogen, manchmal wurde er bezahlt, manche druckten seine Bilder ab, schrieben aber nicht seinen Namen darunter. Er monierte das nicht. Stellte seinerseits nie eine Auswahl seiner Werke zusammen, um sie einem breiteren Publikum zu präsentieren. Aber wir redeten ihm auch nicht genug zu, gibt eine Freundin zu bedenken. Wir sagten nicht, los, Harald, jetzt zeigst du deine Sachen. Sie fügt mit Bestimmtheit hinzu: Er hätte eine Öffentlichkeit haben können.

Nach sieben Jahren sah die Wohnung in Dahlem aus wie jene in Schöneberg. Er zog ein weiteres Mal um. Dasselbe Spiel von Neuem. Staub, Dunkelheit. Aber offensichtlich keine Düsternis im Kopf. Unordnung um ihn, Ordnung in ihm. Rausgehen und fotografieren, ununterbrochen. Objekte, die die Welt bietet, sehen und festhalten. Einen einsamen Löffel vor einem Kellerfenster, einen Briefkasten, auf den jemand unentschlüsselbare Zeichen gekritzelt hat, eine Schale Erdbeeren, die er gleich essen wird. Ich fotografiere das, was andere nicht fotografieren wollen, sagte er.

Das Sehen wurde noch wichtiger, nachdem er, eine Folge von Schlaganfällen, fast ertaubt war. Sein Gesicht blieb nach vorn gerichtet, seine Augen nahmen die Objekte noch stärker in den Blick. Denn er wandte die Ohren nicht mehr hin zu den Geräuschen. Sein Kopf eine Kammer, in der er all die kleinen Dinge der Welt bewahrte.

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