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Claus-Dieter Rath

© privat

Nachruf auf Claus-Dieter Rath: Optimismus-Neurose, unheilbar

Er sei erwachsener als die anderen, hieß es. Dabei hatte er vor allem Fragen, an die Welt und an die Menschen

Sigmund Freud in den „Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse“: „Ein Kind, das sich in der Dunkelheit ängstigte, hörte ich ins Nebenzimmer rufen: ‚Tante, sprich doch zu mir, ich fürchte mich.‘ ‚Aber was hast Du davon? Du siehst mich ja nicht‘; darauf das Kind: ‚Wenn jemand spricht, wird es heller.‘“

Zuallererst war da seine Stimme, die im Ohr blieb. Die zu ihm hinzog. Erwartungen weckte, Hoffnungen. „Claus ist erwachsener als die anderen“, so beschrieb es Claus-Dieter Raths Freund Ulrich Raulff in seinen Abschiedsworten. „Ruhiger, gelassener. Erwachsen auch in einem physischen Sinn, er ist größer als sie, seine körperliche Präsenz ist beeindruckend. Imposant. Er unterstreicht sie durch Schals, die ihn auch in geschlossenen Räumen umwehen. Anders als die meisten von damals schiebt er sich nicht verstohlen in Räume, er betritt sie. Auch seine Stimme ist größer als ihre Stimmen. Nicht lauter, sondern geräumiger, man kann sie bewohnen. Sie ist warm, wie alles an Claus, auch sein häufiges kurzes Lachen, kurz wie ein Satzzeichen.“

Meist ein Fragezeichen. Denn er hatte viele Fragen an die Welt. Und er wusste früh, wo er die Antworten finden konnte. In Büchern. Also studierte er Philosophie und Germanistik, und wechselte dann zur Psychologie. Bücher geben nicht alle Antworten. Es sind die Menschen, die man fragen muss. Er ließ das beschauliche Heidelberg hinter sich und zog nach Berlin. Im Märkischen Viertel studierte er, wie Träume vergehen auf zu engem Raum, einbetoniert werden, versteinern. Mit der Videokamera ließ sich dokumentieren, was von Städteplanern gern verschwiegen wurde. Dass man zuerst ans Bauen gedacht hatte, dann an die Menschen. „Jetzt reden wir.“ Er ließ gemeinsam mit anderen die Bewohner des Viertels zu Wort kommen, in Filmen, im Buch: „Wohnste sozial, haste die Qual.“

Wo bliebe sonst die Freude?

Claus zog weiter nach Italien, der Liebe wegen. Er hatte Silvana getroffen, die wie er viele Fragen an die Welt hatte. Fünf Jahre wohnten sie in Rom, arbeiteten mit dem Dokumentarfilmer Alberto Grifi, recherchierten wie es dazu kommt, zu der Gewalt in Städten. Und was dagegen hilft, gegen die Vereinsamung. Bodenständigkeit. Und ein gemeinsames Essen. Er machte daraus ein Forschungsprojekt über die Esskultur in Kalabrien, gab sich selbst in Vorträgen als „Der fröhliche Esser“ zu erkennen und lud, wann immer er konnte, zum Tafeln ein.

Wenn ich esse, will ich, dass es mir schmeckt - und den anderen. Wo bliebe sonst die Freude? Sein Glück war es, mit einer Italienerin verheiratet zu sein. Sie ersparte ihm die Mühen der Emanzipation, auch in der Küche. Silvana wies ihm seinen Platz im Haushalt zu, den er ohne Murren einnahm. Er durfte assistieren, nicht regieren, dafür erließ sie ihm die Selbstfindung in Männergruppen, was seinerzeit eigentlich Pflicht war. Pflichten im Zusammenleben kannte er nur insofern, als eine absolute Regel galt: Kein Papier im Wohnzimmer. Sein Ordnungssinn war ein Geheimnis, das sich nur ihm selbst erschloss, insofern durfte er ihn auch nur in seinem Arbeitszimmer ausleben.

Silvana zog mit ihm zurück nach Berlin, was ihr nicht leichtfiel, weil sie jedes Jahr im Winter daran erinnert wurde, wie kalt und grau es in der Welt ist, und wie dunkel zuweilen. Was viele trübsinnig macht und nicht wenige zu Hilfesuchenden.

Claus begann, als Psychoanalytiker zu arbeiten. Ein Mensch, der sich in Therapie begibt, hat Fragen, hat ein Begehren, sich selbst näher zu kommen. Anderen näher zu kommen. Warum bin ich mir fern? Warum bleiben andere fern? Der eigene Vater, warum blieb der nicht bei der Mutter, bei den Kindern? Claus kannte diesen Schmerz. Sein Vater hatte die Familie früh verlassen. Er wusste, wovon andere sprachen. Er fühlte es. Aber er ließ das Mitgefühl nicht zur wärmenden Decke werden, die einlullte. Er stellte Fragen. Denn: welche Ratschläge sind die richtigen? Jene, die vorgeben, alles besser zu wissen, oder jene, die sich in eine Frage kleiden, weil sie den Hilfesuchenden eigene Antworten zutrauen?

„Ich weiß nicht, was soll es bedeuten, / daß ich so traurig bin …“, singt Heine im Lied der „Lorelei“, und er besingt die Stimmen, die uns in den Abgrund ziehen, weil wir ihnen wie verzückt lauschen, statt auf uns selbst zu hören. Ein Problem, so empfand es Claus, ist ein Stein des Anstoßes, der hin und hergerückt werden will, bis er in eine Richtung weist. Das kannst du drehen und wenden, wie du willst - die Redensart war bei ihm kein Ausdruck von Hilflosigkeit, sondern eine Empfehlung, sich der eigenen Geschicklichkeit anzuvertrauen. Denn wo Leere ist, da ist auch Sehnsucht nach Erfüllung, und Sehnsucht ist eine Kraft, derer sich die wenigsten bewusst sind. Wann immer er hörte „Ich könnte doch mal dies und das …“, fragte er: „Wie lange wollen sie warten?“

Das Erbe Freuds ist umstritten. In der Psychoanalyse gibt es viele Schulen. Claus fühlte sich zu Jacques Lacan hingezogen, und er knüpfte Kontakte in aller Herren Länder, um das Gespräch über Lacan in Gang zu halten, in Vereinigungen, auf Kongressen. Claus ließ dabei eine Aura spüren, die er selbst gar nicht wahrhaben wollte. Er übte Macht auf Menschen aus, aber er war ämterscheu. Er war auch in seinem Fach ein großzügiger Gastgeber, der alle an den Tisch bat, um über die Dinge zu sprechen, die im Dunkeln liegen, damit es ein wenig heller werde. Denn daran erinnerte ihn Silvana mit ihrer Sehnsucht nach dem Süden bis zuletzt, eine Sehnsucht, die er teilte. Sizilien und Berlin, zwischen beiden Inseln wollten sie im Alter pendeln.

Claus hat an allem gezweifelt, nur nicht an seiner Arbeit, was seine Freunde spotten ließ, dass er an einer unheilbaren Krankheit leide: Der Optimismus-Neurose. Wenn er zu spät am Flughafen eintraf, machte ihn das nie nervös. Denn er konnte sich sicher sein, dass sein Flugzeug in diesem Fall ohnehin mit Verspätung startete. Das hatte immer gut funktioniert. Bis ihn eine Krankheit ereilte, die alle Hoffnung nahm, aber Erinnerungen schenkte.

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