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So kann’s gehen: Manieren ruhig kritisieren

Immer wieder sonntagsfragen SieElisabeth Binder.

Unlängst war ich zu einem privaten, sehr stilvollen Abendessen eingeladen. Es gab Braten mit leckerer Sauce. Mir fiel auf, dass eine junge Frau das Messer zum Ablecken der Sauce mehrmals durch ihren Mund zog. Eine ältere Ärztin nahm die Sauce mit dem Finger vom Teller und leckte den Finger immer wieder voll Hingabe ab. Ist so was in Ordnung?

Merkwürdig, dass niemand direkt den Teller abgeleckt hat. Das wäre doch auch eine Option bei so leckerer Sauce. Mir ist schon beim Lesen Ihrer Zeilen etwas unwohl geworden. Ich kann verstehen, dass Sie ein Problem haben mit dieser Form des tätigen Lobes. Denn das ist es ja, vermutlich, was die anderen Gäste zum Ausdruck bringen wollten. „Schöne Sauce“ sagen kann ja jeder Schnösel. Wer auf sich hält, verlangt sich dann eben ein bisschen mehr ab und zieht die große Lecker-Show ab. Vielleicht ist da ein kleiner Wettbewerb ausgebrochen, den die mutige Frau, die das Messer durch den Mund zog, vermutlich gewonnen hat.

Ob die Gastgeber das wirklich gefreut hat, ist indes fraglich. Denn die eigene Verzückung so drastisch rüberzubringen, dient ja auch der Freude an der Selbstdarstellung, und Gastgeber merken meist, wenn andere Gäste nicht amüsiert sind, selbst wenn diese zu höflich sind, das deutlich zum Ausdruck zu bringen. Vermutlich meinten die Tischgenossen das alles ganz gut.

Aber man sollte sich vor solchen Zurschaustellungen immer fragen, wie sensible Mitmenschen das wohl aufnehmen mögen. Ein charmant formuliertes Kompliment oder eine enthusiastische Lobrede oder noch besser ein hübsches Dankeschönkärtchen am nächsten Tag sind in jedem Fall bessere Reaktionen, als ein noch so gründlich abgeleckter Finger oder im eigenen Munde gesäubertes Messer. In dem Fall hätten Sie Ihrer Sorge um die Unversehrtheit des Mundes ruhig Ausdruck verleihen können. Vielleicht wäre ein solcher Hinweis am richtigen Platz gelandet.

Bitte schicken Sie Ihre Fragen mit der Post (Der Tagesspiegel, „Immer wieder sonntags“, 10876 Berlin) oder mailen Sie diese an:

meinefrage@tagesspiegel.de

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