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Berlin: Hildegard Redel (Geb. 1921)

Ein Lehramtskandidat umwarb sie. Das Rennen machte sein Bruder.

Sie wollte Ärztin werden. Dafür hätte sie ein Abitur gebraucht, doch da kam einiges dazwischen: der Geldmangel, die Nazis, ein Weltkrieg. Hildegard kam aus einfachen Verhältnissen. Moabit, Stube, Küche, Klo halbe Treppe. Der Vater Arbeiter. Sein Motto: „Wenig Geld ist kein Grund, doof zu bleiben.“ Ein Studium hätte er seinem einzigen Kind trotzdem nie bezahlen können. Die Nazis wussten es eh zu verhindern: 1933 schlossen sie die freie Schule, auf der die ungetaufte Hildegard mit den Kindern von Kommunisten, Juden und Sozialisten gelernt hatte. Ihr Vater war Gründungsmitglied der Arbeiterwohlfahrt und der Freien Volksbühne, Sozialdemokrat und ein Pfaffenfresser. Hildegard schlich sich manchmal heimlich in den Gottesdienst, um zu schauen, was ihr entging.

Der Krieg traf die kleine Familie hart: Zwei Mal ausgebombt, vier Mal umgezogen. Der Vater musste zum Volkssturm, Mutter und Tochter wurden von Russen vergewaltigt. Hildegard kommentierte später: „Einen Tripper hab’ ich bekommen, aber wenigstens kein Kind.“ Der Vater kam aus dem Krieg zurück. Hildegards Freund nicht.

Es konnte nur besser werden: eine größere Wohnung in Tempelhof, der Vater mit seinem Parteibuch nun wieder ein geachteter Mann, Hildegard in der Ausbildung zur Grundschullehrerin und mit großem Freundeskreis. Viele daraus engagierten sich in der SPD oder gründeten mit ihr die antifaschistische Jugend. Manche, so wie Erich Ollenhauer oder Heinz Westphal, machten später Karriere, allerdings in Bonn. Hildegard blieb in Berlin. Sie wollte erwachsen sein, und das hieß für sie: eine eigene Familie haben. Musste nur noch ein Mann her, und davon gab es in diesen Tagen nicht viele. Der Lehramtskandidat Werner Redel umwarb die junge Frau mit den halb lustigen, halb verträumten grün-grauen Augen und den energischen dunklen Haaren. Das Rennen machte aber sein Bruder Willi.

Familie Redel wohnte nur eine Straße von den Wenzels entfernt. Ideologisch lagen aber Welten zwischen den Familien. Die Heirat zwischen einer Ungetauften und einem Protestanten ging in Weiß, aber nicht in einer Kirche vonstatten. Sechs Monate später wurde Beate geboren und, so die Absprache zwischen Willi und Hildegard, getauft. Willi hatte auch noch einen weiteren Vorschlag, um seinem Familienideal näher zu kommen: Hildegard sollte ihre Arbeit als Lehrerin aufgeben, der Mann die Familie allein ernähren. Hildegard pfiff drauf, und während Willi den Bau von Shell-Tankstellen plante und überwachte, unterrichtete sie weiterhin Jungen und Mädchen in Lesen, Schreiben, Rechnen, Sport, Heimatkunde, Malen, Sport und Handarbeiten. Mittags holte sie Beate von den Großeltern, kochte und korrigierte Hausaufgaben oder brachte ihrer Tochter Lesen und Schreiben bei, nun etwas strenger als bei den Kindern in der Schulklasse.

Zwischen Mutter und Tochter knüpfte sich dennoch ein enges Band. „Hallo Freundin“, sagte Hildegard oft zur Begrüßung und schrieb Karten mit kleinen Botschaften: „Mama will dich gesund und untraurig. Knutsch!“ Willi gehörte nicht zu diesem Bund. Als sein autoritärer Vater starb, fiel er in Depressionen und sprach sogar von Selbstmord. Er musste in eine Klinik, Hildegard erlitt in diesen Tagen im Krankenhaus eine Fehlgeburt. Nach sechs Wochen mit autogenem Training und Maltherapie entließ sich Willi selbst. Für ihn waren da nur Bekloppte, zu denen er nicht gehörte.

Die Freundschaften in Bonn und Berlin entglitten Hildegard. Weder blieb viel Zeit, noch schätzte Willi solche Geselligkeiten. Nach und nach wurde auch die Arbeit als Lehrerin schwieriger: Die Eltern mischten sich ein, antiautoritär sollte es zugehen, die Kinder wurden unruhiger, Hildegard älter. Mit 62 ging sie in Rente, Willi betriebsbedingt in den vorzeitigen Ruhestand. Nun war mehr Zeit für Opernbesuche, Kulturreisen mit der Freien Volksbühne und Hobbys. Willi kegelte und saunierte, Hildegard schloss sich einer Künstlergruppe an und malte Landschaften.

Mitte der Achtziger trat Hildegard nach über 50 Jahren Mitgliedschaft aus der SPD aus. Das war nicht mehr ihre Partei. Und dann kam auch noch „dieser Schröder“ an die Macht.

Die Goldhochzeit feierte sie im Hotel Adlon. So erfüllten die Tochter und der Schwiegersohn dem Arbeiterkind einen Jugendtraum. Wie die Queen winkte Hildegard aus dem gemieteten Bentley.

Das Ende begann mit einer Hirnblutung. Hildegards letzte Worte in der Klinik, bevor sie ins Koma fiel: „Hallo Jungs, dass ihr mal bloß Bescheid wisst, ich misch euch hier alle auf.“

Sie hielt Wort: Als sie wieder zu sich kam, berlinerte sie plötzlich und amüsierte das Personal mit ordinären Sprüchen. Ein etwas schriller Schlussakkord im Leben einer vornehmen, ausgeglichenen und disziplinierten Frau, deren Tochter Ärztin wurde. Anselm Neft

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