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Berlin: Die Welt im Verwahrlosten

Viele kleine Buchstaben zieren das Treppengeländer vom Erdgeschoss bis unters Dach. "Der Pumpenschwengel am Brunnen war eine prima Schaukel", ist darauf zu lesen.

Von Heike Gläser

Viele kleine Buchstaben zieren das Treppengeländer vom Erdgeschoss bis unters Dach. "Der Pumpenschwengel am Brunnen war eine prima Schaukel", ist darauf zu lesen. Eine von vielen Kindheitserinnerungen des heute fast 100-jährigen Heinrich Thiele, der 1902 im Haus Schönhauser Allee 167c geboren wurde.

Heute steht das verwahrloste, triste Haus leer. Lediglich ein weißes Transparent an der Außenfassade weist darauf hin, dass hier Leben herrscht. Das Haus ist besetzt. Allerdings nur auf Zeit und ohne politische Motive. Zwanzig Berliner Künstler haben sich hier vorübergehend einquartiert und nutzen das Haus als Kunstraum, um sich und ihre Arbeiten zu zeigen. Ein Ort zum Staunen, Erleben und Kommunizieren ist entstanden.

Koko Köhler ist eine der ausstellenden Künstlerinnen und für die Treppenhausinstallation verantwortlich. Aus einem Interview, das sie mit dem ehemaligen Besitzer und Mehllieferanten Thiele geführt hat, entnahm sie Zitate, um sie auf dem Handlauf im Treppenhaus zu dokumentieren. Jedes Haus hinterlässt Spuren der Menschen, die es bewohnten. Die Künstler greifen sie auf, interpretieren das Gegebene neu oder erzählen ihre eigenen Geschichten.

Zu DDR-Zeiten residierte im Haus 167c das Institut für Agrarökonomie. Die Tür 35 zeugt noch davon, auf dem Türschild ist "TG Ernährungswirtschaft" zu lesen. In der verstaubten ehemaligen Beamtenstube hat Isabelle Krieg die Welt entdeckt: Eine Kunst-Inszenierung der Welt im Verwahrlosten: Eine Teetasse, deren Teeflecken die Weltkarte zeigen, Rotweinflecken auf einem Tablett, die ebenfalls Afrika, Nord- und Südamerika erkennen lassen. Auf der Tapete, auf der Kochplatte, in der Schaumstoffmatratze, überall entdeckt man bei genauem Hinsehen die Umrisse der Kontinente. Die große Welt im Kleinen.

Ein Stockwerk tiefer hat sich der Künstler Andreas Töpfer von der Idee "Malen nach Zahlen" inspirieren lassen. Mit Kreppband klebte er die Umrisse eines Schranks perspektivisch ab. So entstanden auch ein Tisch, ein Sessel, ein Bett. Dann füllte er die neu entstandenen Flächen mit Farbe oder Kunststofffolie und nannte seine Arbeit "Illusion einer Erinnerung".

Seit 1992, als die Erbengemeinschaft Thiele das Haus zurück erhielt, steht es leer. Peter Trier, selbst ausstellender Künstler und Fotograf, kümmert sich für die Erbengemeinschaft um das Haus. "Ich wohne um die Ecke und schaue nach dem Rechten, damit die Rohre nicht zufrieren". Seine Exponate zeigen verwitterte und ausgebleichte Plakate, die ihren Sinn verloren haben. Durch seinen fotografischen Blick sind spannende Bilder mit neuen Strukturen und Farben entstanden. Zusammen mit Nele Probst, Initiatorin der ungewöhnlichen Ausstellung, hat Trier das Projekt auf den Weg gebracht. "Es war Zufall, dass wir hier ausstellen dürfen", sagt Nele Probst, "ich hatte spontan die Idee, dass man mit den Räumen doch etwas Schönes machen könnte." Die Künstlerin, die iren Arbeiten Titel wie "Bob schraubt" gegeben hat, sprach andere junge Künstler an - und schon war das Haus mit seinen zwanzig Räumen auf drei Etagen gefüllt. Bauschuttberge wurden hinausmanövriert, Diainstallationen, Kunstobjekte, Bilder und Fotografien aufgebaut.

Finanziell und organisatorisch wurde die Künstlertruppe vom Kulturamt Pankow/Prenzlauer Berg und vom Label KOOK unterstützt, das ursprünglich als Musiklabel begann, inzwischen aber auch auf andere Kultursparten übergreift. Regelmäßig treffen sich die beteiligten Künstler im so genannten großen Saal im Erdgeschoss, der notdürftig mit Möbeln ausgestattet ist. Dort sitzen sie täglich beim Tee und tauschen sich aus. Einige der Künstler haben sich erst zu diesem Projekt kennen gelernt. Abends legen hier DJs auf, es wird gefeiert, getanzt, gekocht und gequatscht - bis in die Morgenstunden. Noch bis zum 3. Februar wird in den verlassenen Räumen nicht nur ausgestellt - sondern auch richtig gelebt.

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